Jena 18.4.1899.
Verehrteste Freundin!
Also richtig: „Fata Morgana“! Statt der gewünschten schönen Ansichts Postkarte aus Cannes oder Villefranche, nebst einem duftigen Blumengruß aus dem herrlichen Süden, erhalten Sie hiermit den letzten Seufzer eines armen Clausur-Scribenten den seine schönen Oster Ferien mit thörichten Grübeln über die 7000 „Welträthsel“; über das schöne „Perpetuum mobile“ des Universum, und andere solche erbaulichen Doctor-Fragen vertrödelt hat, statt am blauen Mittelmeer die ersehnte Erfrischung zu finden! ||
Nun wenigstens ist die harte Kerkerhaft in dem „verfluchten dumpfen Mauerloch“, und die absolute Enthaltung von jeder Zerstreuung (– ich habe in diesen sieben Wochen außer meiner Familie keinen Menschen gesehen und galt officiel als „Verreist“) – nicht umsonst gewesen.
Das Manuscript der „Welträthsel“ ist endlich „mit Ach und Krach“ gestern fertig geworden und soll Ende der Woche an Herrn Strauss abgehen. Es sind 20 tüchtige Kapitel geworden! ||
Ich habe das angenehme Gefühl eines alten Bergpferdes, dem beim Erklimmen des schneebedeckten Alpenpasses schier die Luft ausgegangen ist, und das trotz aller Peitschenhiebe viel Zeit gebraucht hat. Aber es ist doch wenigstens oben und sieht das gelobte Land der „Erkenntniß“ im Abendsonnen-Glanze des „reinen Monismus“ vor sich liegen. Eigentlich soll ich nächste Woche mein Sommer-Semester beginnen. Ich muß aber doch einige Tage Luft schnappen und will nächsten Samstag nach Berlin gehen. || Ich wohne dort bei einer lieben alten Tante, Frl. Sethe, die trotz ihrer 87 Jahre noch sehr frisch ist; ihre Wohnung (Friedrich Wilhelm Str. 3) ist ganz nahe dem Thiergarten. Am letzten April muß ich hier zurück sein.
Kommen Sie nicht mit Ihrem lieben Manne im nächsten Sommer mal nach Jena? Ich werde meine ganzen Medusen und Radiolarien zu Ihrem festlichen Empfange aufbieten! Hoffentlich geht es mit Ihrer Beider Gesundheit jetzt ganz gut!
Mit herzlichen Grüßen
Ihr treu ergebener
Ernst Haeckel.