Jena, 6.9.1911.
Lieber Herr Riess!
Soeben waren Dr. Heinrich Schmidt und Herr Thiele bei mir, die beide morgen nach Hamburg reisen und Ihnen mündlich über die hiesigen Verhältnisse berichten werden. Ich habe Dr. H. Schmidt gebeten, nach Eröffnung des Kongresses (am Abend des 9. Sept.) meine „Ansprache“ zu verlesen (was etwa 12 Minuten in Anspruch nehmen wird) und vorher mündlich – in wenigen Worten – mein herzliches Bedauern auszusprechen, dass meine Gesundheit mir die Reise nach Hamburg nicht erlaubt. Leider ist mein Allgemeinbefinden (nach viermonatlicher Stubenluft) immer noch sehr unbefridigend [!] und das verletzte Hüftgelenk noch so schmerzhaft, dass ich nur wenige Schritte auf 2 Stöcken gehen kann. Daher werde ich auch bei dem ehrenvollen Besuche, den eine Anzahl Kongress-Mitglieder nach dessen Schlusse (am 12. und 13. Sept.) mir in Jena abstattena wollen, genötigt sein, meine leidende Person möglichst zu schonen und meine persönliche active Betätigung auf das möglichst bescheidene Mass einzuschränken. Das ist auch schon dadurch gerechtfertigt, dass bei dieser „Huldigungsfahrt“ die Demonstration für unsere gute Sache, das öffentliche Eintreten für unsere monistische Weltanschauung und die vernunftgemässe Lebensführung die Hauptsache ist – und nicht die Ehrung meiner alten und invaliden Person; letztere hat nur insofern Wert, als sie die ersten gefördert hat.
Was die einzelnen Punkte Ihres Programms betrifft, so muss ich auf die Teilnahme an dem Kommers im „Deutschen Hause“ (am 12. abds.) leider Verzicht leisten. Dagegen wird es mir eine Ehre und Freude sein, bei dem vorhergehenden Fackelzug in meiner Villa eine Deputation der Teilnehmer zu empfangen und ihnen meinen herzlichen Dank auszusprechen.
Am Vormittag des 13.9. wird die Besichtigung des Phyletischen Archivs von Herrn Dr. H. Schmidt, die anschliessende des Phyletischen Museums von meinem Amtsnachfolger, Herrn Prof. Dr. Plate geleitet werden. Zu der Festtafeln [!] im Hotel zum „Schwarzen Bären“ hoffe ich sicher erscheinen zu können. Am Ausfluge zum „Forsthaus“ kann ich leider nicht teilnehmen.
Allem Anschein nach dürfen wir hoffen, dass der Monisten-Kongress – bei weitreichender internationaler Teilnahme) und bei der geschickten Leitung durch unseren vorzüglichen Präsidenten Prof. Ostwald – glänzenden Erfolg haben und einen Markstein in der Geschichte der monistischen Philosophie bedeuten wird. Nicht geringen Anteil an diesem Erfolg aber werden wir Ihnen und den anderen Mitgliedern der Ortsgruppe Hamburg schuldig sein. Dafür statte ich Ihnen heute schon meinerseits den herzlichsten Dank ab.
M it besten Wünschen und freundlichen Grüssen hochachtungsvoll
Ihr ergebener
gez. Ernst Haeckel
a korr. aus: sbstatten