Marie Eugenie delle Grazie an Ernst Haeckel, Wien, 5. Oktober 1894

Hochverehrter Herr!

Nun ich annehmen darf, dass Sie gesund, und gestärkt zu neuem Schaffen, wieder Ihr altes Heim bezogen, dessen weltentrücktem Frieden die Wissenschaft so reiche Ernten verdankt, beeil’ ich mich, Ihre, mich so hoch ehrende Bitte zu erfüllen. Hier ist mein Bild. Am Liebsten hätt’ ich’s Ihnen mit meinem Danke für Ihre freundlichen Zeilen sogleich geschickt. Aber in Salzburg hatt’ ich es || nicht zur Hand. Zudem wusst’ ich Sie auf Reisen; da ist man von jeder lästigen Briefschuld gerne frei; und um ganz aufrichtig zu sein, wollt’ ich meinen Brief auch sicher an Sie gelangt wissen. Sie nehmen mir’s daher wohl nicht übel, wenn ich für die schönen, mich hocherfreuenden Gaben, die Ihren liebenswürdigen Zeilen beilagen, nun erst danke. Ihre geistvolle Rede war mir bereits aus der „Freien Bühne“ bekannt. Dass ich dieselbe mit einer persönlichen Widmung ihres, von mir so hochgehaltenen Verfassers, nun in Händen halte, macht sie mir doppelt wert. || Nicht nur all’ diejenigen, welchen von den trostlosen Wirrnissen dieser Übergangszeit die Köpfe schwindeln, speziell auch wir Künstler haben Ihnen für die schönen Worte, die Sie da fanden für ein Evangelium, dem Sie selbst als treuester Jünger gedient, aufrichtig zu danken! Sie haben da Allen den Sonnenpfad der Zukunft gewiesen! Ich speziell, abstrahire für meine Person auch von den Worten „schön, wahr und gut.“ Die Natur lieb’ ich, wie sie ist. Ihre höchste Schönheit kann zugleich zerstören; und über Wahrheit und Güte hab’ ich so meine || eigenen Gedanken. Aber es versteht sich von selbst, dass man einer Zeit, die zum großen Theil noch an Symbolen hängt, wenigstens vergöttlichte Begriffe lassen muss. Für mich spricht die Natur immer wie der Jehovah des alten Testamentes: „Ich bin ich!“ – das ist Majestät. Alles Andere tragen wir in sie hinein, als Wunsch. Wir wenigen Dichter, Menschen genannt!

Eigenthümlich ist es mir mit der Photographie nach dem Max’schen Bilde ergangen. Als ich dieselbe erblickte, glaubt’ ich, eine Illustration zu einer Episode aus dem 12. Gesang || meines „Robespierre“ („Die Mysterien der Menschheit“) vor mir zu haben. Wär’ ich gläubig, würd’ ich das mystisch finden. So weiß ich, dass das einzige große Mysterium dieses Jahrhunderts, dem wir Alle dienen, der Gedanke ist, der in leuchtender Schönheit bald hier bald dort aufblitzt, wie ein elektrischer Funke. Und gewisse Gedanken haben ja die geistige Atmosphäre dieses Jahrhunderts zu neuen Schöpfungen geschwängert.

Glücklich wird es mich machen, Ihnen, wahrscheinlich noch vor Weihnachten meinen || „Robespierre“ in die Hände legen zu können. Einstweilen bitt’ ich Sie, hochverehrter Herr, diese Zeilen und mein Bild als bescheidenen Dank für die große Freude zu betrachten, die mir Ihr Brief, und die, denselben begleitenden Gaben bereitet.

In diesem Gefühle zeichnet

Hochachtungsvoll

Ihre ergebene

M. E. delle Grazie

Wien, XIX. Cottage,

Stephaniegasse 1a.

5. 10. 94.

Brief Metadaten

ID
31644
Gattung
Brief ohne Umschlag
Entstehungsort
Entstehungsland aktuell
Österreich
Datierung
05.10.1894
Sprache
Deutsch
Umfang Seiten
6
Umfang Blätter
4
Format
11,5 x 15,8 cm
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 31644
Zitiervorlage
Delle Grazie, Marie Eugenie an Haeckel, Ernst; Wien; 05.10.1894; https://haeckel-briefwechsel-projekt.uni-jena.de/de/document/b_31644