Conrad Keller an Ernst Haeckel, Zürich, 21. Mai 1878

Zürich, dℓ. 21. Mai 1878.

Verehrtester Herr Professor!

Ihre gütige Zusendung der neuesten Arbeit über Echinodermen kann ich leider erst jetzt meinen herzlichen Dank sagen. Wenn Sie schreiben, so genießt man alle mal ein schön abgerundetes Kunstwerk neben den wissenschaftlichen Schätzen. Ich begreife, daß es nicht jedem Menschenkinde gelingt, so rückhaltslos überzeugend zu wirken. Ich sehe täglich mehr, daß man zwar mit Thatsachen überzeugt, aber mit Ihrer Schärfe u. Durchsichtigkeit der Beweisführung erreicht man die zwanzigfache Wirkung. Nun ich habe sofort meine Asteriden durchmustert und Ihre Angaben an einigen Stücken aufs Schönste illustrirt gefunden, u. werde denselben jetzt sehr Sorge tragen.

Inzwischen wollte ich Ihnen durch Zusendung meiner Renieraarbeit ein Lebenszeichen geben. Wenn ich || mich nur sehr mangelhaft revanchieren konnte, so bitte ich Sie den guten Willen meine Stellung ausfüllen zu wollen taxiren zu wollen.

Hier haben die Physiologen die Resultate mit Interesse aufgenommen.

Im Momente habe ich Spongillen im geschlechtsreifen Zustande mit schönsten Spermacapseln.

Im März u. April war ich wieder an der Liguria, um über Ascidien zu arbeiten, nebenbei habe ich meine frühern Angaben über die Larven von Leucandra bestätigt gefunden, leider erhielt ich keine reifen Asconen.

Hier in Zürich geht es bei einer tropischen Hitze jetzt völlig befriedigend. Der alte Frey ist in das Stadium vorgerückt, wo er einzelne Vorlesungen mit Noth zu Stande bringt, sonst hat der Kampf ums Dasein mildere Formen angenommen.

Dieser Tage ist Neubestellung der regierenden Personen gewesen. Es sind das immer Schicksalstage welche unsere Republik a in Aufregung versetzen, und jetzt um so mehr als ein stark reactionärer Luftzug durch alle Kantone spürbar ist. || Unserer Hochschule ist eine fortschrittliche Entwicklung gesichert, da die Reaction völlig unterlegen ist u. das Volk wieder radical gewählt hat.

Ihre Münchener Rede treibt hier immer noch ihre Wellen unter Pädagogen u. Geistlichen, voraussichtlich gibts in der nächsten Zeit lebhafte Debatten Ihrer Forderungen an die Volksschule betreffend. Sie haben da in ein Wespennest hineingestochen u. den Reformpfaffen Gelegenheit gegeben, die jesuitische Maske so recht zu Tage treten zu lassen.

Es wird Sie vielleicht auch interessiren, daß mir hier definitive Zusicherungen gemacht sind. Ich bin in dem Stadium, wo man anfängt ungeduldig zu werden, obschon man mir [!] sehr bald nach meiner Habilitation vorläufig weich gebettet hat. Aber von Zeit zu Zeit muß etwas geschehen, sonst ist die Geschichte langweilig. Meine bisherige Thätigkeit in Zürich wird nun in vollem Maße anerkannt u. ist mir von competentester Seite eine Professur an der Universität in sichere Aussicht gestellt, nur muß ich mich gedulden, bis die neue Regierung sich an ihre Sessel gewöhnt hat.

Nun, ich kann ja noch einen Moment || Geduld haben u. die Zusicherungen sind ja völlig beruhigend.

Länger will ich Sie nicht mehr in Anspruch nehmen u. danke Ihnen herzlich für Ihre Zusendung. Mit vielen Grüßen verbleibe ich in alter hochachtungsvollster Ergebenheit

Ihr

C. Keller.

a gestr.: immer

Brief Metadaten

ID
31272
Gattung
Brief ohne Umschlag
Entstehungsort
Entstehungsland aktuell
Schweiz
Entstehungsland zeitgenössisch
Schweiz
Datierung
21.05.1878
Sprache
Deutsch
Umfang Seiten
4
Umfang Blätter
2
Format
13,4 x 20,9 cm
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 31272
Zitiervorlage
Keller, Conrad an Haeckel, Ernst; Zürich; 21.05.1878; https://haeckel-briefwechsel-projekt.uni-jena.de/de/document/b_31272