Conrad Keller an Heinrich Frey, Zürich, 28. Juli 1875
Zürich, dℓ. 28. Juli 75
Hochverehrter Herr Professor!
Sie gestatten wohl gerne, daß ich am Schluße meines ersten Semesters etwas hören lasse. Gerne hätte ich das große Interesse bezeugt, womit mich Ihre auf Corsica gewonnenen Resultate erfüllten, ebenso die ausgezeichnete Arbeit von Hertwig über Podophrya, indessen wollte ich Ihnen diesmal ein Verdienst verdanken, daß Sie sich, ohne es zu beabsichtigen, speciell um Zürich erworben. Sie haben nämlich in Zürich den alten Lorenz Oken rehabilitirt, dessen Verdienste Sie stets betont haben. Noch vor einem Vierteljahrhundert war der geniale u. liebenswürdige Mann eine Zierde unserer Universität. Okens Lebensabend mußte leider ein trauriger u. bitterer sein. Es kam damals ein junger Mann, der in gewandter Weise den ehrlichen Oken auf jede Weise herunterzusetzen verstand || und mit raffiniertem Demagogenthum den großen Zoologen zu verdrängeln wußte. Noch leben in Zürich Persönlichkeiten genug, welche mir jene Epoche noch lebhaft zu schildern wissen.
War es ein Wunder, wenn der sonst so liebenswürdige Oken sich einmal bitter über den ihn weg drängenden „zoologischen Zaunkönig“ äußerte. Dieser Zaunkönig lebt heute noch u. führt den Namen Heinrich Frey – war hier seit 48 von Niemandem bleibend geachtet, von sehr vielen aber gefürchtet – Jeden abstoßend, der etwa hätte in die Karten sehen können.
Indessen kommt die Nemesis oft rascher als man denkt u. Sie werden staunen, wenn in diesen Tagen Frey sich so sehr verrannt hat, daß er seine eventuelle Entlassung eingereichta hat. Da er auf eine schiefe Ebene gerathen u. diesen Sommer eine Schlappe nach der andern erlitten, hat er das Gleichgewicht verloren u. spielt va banque. In klarer und unzweideutiger Weise || ist ihm geantwortet worden, daß seine Demission angenommen würde u. nun wieder wird er sie wohl wieder zurückziehen. Für Pfaffenthum, ob es sich im Priesterrock oder in wissenschaftlicher Gestalt zeige, ist eben in Zürich einmal kein Boden mehr. Mir hat er den Weg gegen seinen Willen geebnet.
Obschon mir die Behörde ist so bequem als möglich gemacht, so war im Frühjahr die Situation eine sehr prekäre. Einer mußte notwendig „reinfallen“. Dies ist denn auch gründlich geschehen.
Ich habe dieses Semester 12 Practicanden in dem Laboratorium, das mir eingeräumt wurde u. gegen 50 Zuhörer, welche bis heute sehr regelmäßig erschienen sind. Ich verdanke das wohl weniger meiner bescheidenen Kraft, als vielmehr den Ideen, die ich in Ihrer Schule geholt u. in welche ich mich so umfassend wie möglich einzuleben suche.
Noch muß vieles nachgeholt u. zahlreiche Literatur durchgearbeitet werden. In manchen Dingen erfreue ich mir [!] der freundlichen Unterstützung in Prof. Eberth’s Laboratorium. ||
Herr Dr.Moesch, der Sie aufs Beste grüßen läßt, hat mir die zoologischen Sammlungen gerne zur Verfügung gestellt.
Wie ich lebhaft hoffe, dürfte vielleicht Jena eine Verstärkung für Ihre Ideen nach Zürich abtreten, indem es nicht unwahrscheinlich ist, daß Herr Dr.Fritz Schultze als Philosoph an Wilhelm Wundt’s Stelle berufen wird, was mich sehr freuen würde. In dieser Hoffnung schließe ich u. bitte Sie, meine Herrn Collegen Koch u. Hertwig vielmal zu grüßen. Empfangen Sie die freundlichsten Grüße von Ihrem
Verehrungsvollst ergebenen
C.Keller
a irrtüml.: eingericht