Richard Hertwig an Ernst Haeckel, Schlederlohe, 6. Juli 1919

Schlederlohe d. 6. Juli 1919.

Hochverehrter lieber Freund und Lehrer!

Seit ich Ihnen das letzte Mal geschrieben habe, hat sich viel Unheil über unser armes Vaterland ergossen. War schon der Wahnsinn der Revolution am 7. November eine Schmach und ein Verbrechen, so a ist er noch in den Schatten gestellt worden durch die Bolschewisten-Aufstände, die in den letzten Monaten die letzte Lebenskraft unseres Volkes zu vernichten drohen. Wer hätte in der glorreichen Zeit, in der Deutschland unter Bismarck’s Führung seinen glänzenden Aufschwung nahm, einen solchen Sturz für möglich gehalten. Daß die Leitung des deutschen Reichs || in keinen guten Händen sich befand, war ja schon lange klar. Namentlich daß Kaiser Wilhelm II für Deutschland ein Unheil war. Aber das Schlimme bei den Ereignissen der Neuzeit ist die deprimirende Erfahrung, daß es auch mit den sittlichen Kräften in unserem Volke übel bestellt ist. Der große Aufschwung den Deutschland gewonnen hat, ist das Werk einer kleinen Oberschicht von Intellektuellen, die die Träger der nationalen Gedanken war. Die große Masse des Volks hat sich eine Zeit lang mitreißen lassen, dann ist sie in denb Pfuhl eigensüchtiger Interessenpolitik zurückgesunken. Es ist tief betrübend || und beschämend zu sehn wie wenig deutsches Sein und deutsches Einigkeitsgefühl die Maßen beherrschte. Wenn man damit England, Frankreich, Italien, ja sogar Amerika vergleicht, so möchte man verzweifeln ein Deutscher zu sein. Und doch muß man es nicht aufgeben an Deutschlands Wiedergeburt weiterzuarbeiten und wie Lettow Forbeck es ausdrückte Ziegelstein für Ziegelstein des zusammengestürzten Hauses wieder zusammenzutragen, hoffend daß ein großer Theil des sittlichen Verfalls, der uns umgiebt, eine Reaction auf die übermäßigen Anstrengungen unseres Volkes im Krieg gewesen ist.

Ich bin mit Arbeit sehr überhäuft. Viel Zeit verlangen Untersuchungen über || Geschlechtsbestimmung die ich angefangen habe. Dazu kommt die neue Auflage meiner Zoologie, die mich ebenfalls sehr beschäftigt, so daß ich anfange wegen Überarbeitung nervös zu werden. Dazu die Sorgen um die Zukunft Deutschlands. Das möge mein langes Schweigen entschuldigen.

Ob mein Sohn jetzt Aussicht hat nach Deutschland zurückzukehren ist immer noch zweifelhaft. Meine Frau hat sich Einreiseerlaubniß nach der Schweiz verschafft und wird ihn am nächsten Sonnabend besuchen; sie gedenkt 14 Tage in der Schweiz zu bleiben. Sie hat auch die Erholung sehr nöthig, sieht in Folge der vielen Arbeit und schlechten Ernährung sehr abgemagert aus. Ich würdec frühestens im September reisen können, da wir in München bis Ende August lesen werden. Bis dahin wird wohl die Einreise überflüssig geworden und mein Sohn nach München zurückgekehrt sein. Nach 5jähriger Abwesenheit!

Herzlichst grüßt Sie in alter Anhängigkeit und Verehrung

Ihr treu ergebener

R. Hertwig

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Brief Metadaten

ID
30556
Gattung
Brief ohne Umschlag
Entstehungsort
Entstehungsland aktuell
Deutschland
Entstehungsland zeitgenössisch
Deutsches Reich
Datierung
06.07.1919
Sprache
Deutsch
Umfang Seiten
4
Umfang Blätter
2
Format
14,1 x 22,2 cm
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 30556
Zitiervorlage
Hertwig, Richard an Haeckel, Ernst; Schlederlohe; 06.07.1919; https://haeckel-briefwechsel-projekt.uni-jena.de/de/document/b_30556