Richard Hertwig an Ernst Haeckel, München, 1. Januar 1919

München Schackstr. 2III d. 1. Januar 1919.

Hochverehrter lieber Freund und Lehrer!

So wären wir aus dem Jahr des Unheils und der Schande unseres Vaterlandes in das Jahr 1919 hinübergetreten. Die Jahreswende wurde durch viel Schießerei bezeichnet; ob es sich um Kämpfe in der Stadt handelte oder ob das Proletariat nur seine Freude hat zum Ausdruck bringen wollen, daß wir es so herrlich weit gebracht haben, weiß ich nicht. Die Morgens-Zeitung ist nicht gekommen, was ein schlechtes Zeichen ist. Heute früh herrscht Ruhe. Was wird das kommende Jahr uns bringen? || Ich fürchte, wenig Gutes. Das letzte Jahr hat uns nicht nur den politischen, sondern auch den moralischen Zusammenbruch unseres Volkes gebracht. Es wird bei den trostlosen wirthschaftlichen Zuständen im Land lange dauern, bis das sittliche Gleichgewicht wieder hergestellt ist. Der Krieg ist a Auslese zum Schlimmen. Unter den 1,600,000, die gefallen sind, ist sicher ein ungeheurer Prozentsatz tüchtiger Männer. Unter denen, die erhalten geblieben ist, befindet sich das Lumpengesindel, welches vornehmlichb die Revolution gemacht hat und fortgesetzt den Terror auf der Straße ausübt. Was früher als Vaterlands Verrath angesehen wurde, Revolution und innerer Zwist, während der Feind vor den Toren steht, wird jetzt als große That verherrlicht. In erschreckender Weise fehlt es uns an politisch führenden tüchtigenc Män-||nern. In den letzten 40 Jahren hat sich unsere Intelligenz wissenschaftlicher Forschung und der Förderung von Handel und Industrie zugewandt. Daher die gewaltigen Fortschritte, die auf diesen Gebieten erzielt wurden und dem deutschen reich ein blendendes Gewand verliehen, während die innerpolitische Structur morsch wurde. Dazu kam das Verhängniß dieses unseeligen Kaisers, dem weder ein starker Volkswillen noch ein Rath besonnener, energischer und ihrer Verantwortung bewusster Fürsten ein Gegengewicht bildeten. So kann man es nur als eine historische Gerechtigkeit betrachten, daß die Sozialdemokratie in der Neuzeit die führende Rolle übernommen hat.

Die heutige Post hat mir wieder ein Geschenk von Ihnen gebracht: die Dodel’sche Schrift und Ihre Radiolarien Neujahrsgrüße, Herzlichen || Dank, sowie meine besten Wünsche, daß was Sie in der Zuschrift ausgedrückt haben, in Erfüllung gehn möge. So weit es die Aufregungen der 4 letzten Kriegsjahre mir erlaubten, habe ich mich mit meiner in Tenerifa gesammelten Radiolarien Beute befasst. Es ist ein riesiges Material, das ich nur ganz allmählich verarbeiten kann. Aber es kommt mancherlei Interessantes dabei heraus.

Von meinem Sohn habe ich insofern gute Nachrichten als er in ununterbrochener künstlerischer Thätigkeit istd. Er hat in einer Plakatconcurrenz den Sieg davon getragen und uns zu Weihnachten viele Aquarelle, Federzeichnungen und Linoleumdrucke eingesandt; sie haben wie sein frischer Brief uns große Freude bereitet.

Ganz überrascht wurde ich durch den Tod Semons. Er soll durch den Tod seiner Frau und durch die Furcht vor Abnahme seiner geistigen Fähigkeiten veranlasst sein.

Herzliche Neujahrsgrüße sendet Ihnen in alter Treue u. Verehrung

Ihr R. Hertwig

a gestr.: eine; b eingef.: vornehmlich; c eingef.: tüchtigen; d eingef.: ist

Brief Metadaten

ID
30554
Gattung
Brief ohne Umschlag
Entstehungsort
Entstehungsland aktuell
Deutschland
Entstehungsland zeitgenössisch
Deutsches Reich
Datierung
01.01.1919
Sprache
Deutsch
Umfang Seiten
4
Umfang Blätter
2
Format
14,3 x 18,6 cm
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 30554
Zitiervorlage
Hertwig, Richard an Haeckel, Ernst; München; 01.01.1919; https://haeckel-briefwechsel-projekt.uni-jena.de/de/document/b_30554