Hertwig, Richard

Richard Hertwig an Ernst Haeckel, Schlederlohe, 6. August 1913

Schlederlohe Post Wolfratshausen

d. 6. August 1913.

Hochverehrter und lieber Freund!

Es ist lange her daß ich Ihnen nicht geschrieben habe. Ich hatte es mir seit Langem vorgenommen. Daß es so spät zur Ausführung gekommen ist, ist kein gutesa Zeichen für den Briefschreiber. In der That habe ich mich während des Sommer-Semesters unter dem Banne einer unfrohen Stimmung befunden, welcher durch vielerlei Verdruß hervorgerufen wurde, den ich bei meiner Rückkehr von Tenerifa vorfand. Ich bin froh, daß das Sommer Semester vorbei ist und ich mich in Schlederlohe wieder Beschäftigungen widmen kann, welche mir Freude bereiten. Verdrießlich ist es nur, daß ich jede Woche zweimal in die Stadt fahren muß, um die Rectoratsgeschäfte zu erledigen. Denn der || Rector ist krank und der Prorector verreist.

In den nächsten Wochen hoffe ich Ihnen meinen Artikel über die Abstammungslehre zusenden zu können. Derselbe bildet die Einleitung zum IV. Band der Kultur der Gegenwart. Zur Abfassung derselben habe ich die riesige Literatur über Variabilität, Mutation etc durchlesen müssen. Dabei habe ich den Eindruck gewonnen, daß wir voraussichtlich in den nächsten Jahren immer mehr wieder auf die alten Anschauungen Darwins bezüglich der Wirkung von Variabilität und Selection zurückkommen werden. Die Mutationstheorie und die statistische Variabilitäts-Untersuchung haben zu einer Vertiefung unserer Anschauungen geführt, aber nicht die vollkommene Revolutionirung derselben, wie de Vries, Johannsen u. A. annahmen, zur Folge gehabt.

Viel Freude hat mir in der letzten Zeit unser Sohn Otto gemacht. Seine künstlerische Ader entwickelt sich in immer erfreulicherer Weise. Er kam uns auf unserer || Rückreise von Tenerifa entgegengefahren. Wir hatten den Rückweg über Barcelona genommen. Leider hatte unser Dampfer 6 Tage Verspätung, so daß wir in Barcelona nur kurze Zeit bleiben konnten. In Südfrankeich besuchten wir Carcassone und trafen in Nimes mit unserem Otto zusammen. Von da aus besuchten wir die gewaltige Ruine des Pont du Gard, dann Avignon, Grenoble und schließlich noch den Genfer See. Unser Sohn hatte schon vorher Süd Frankreich landschaftlich und architektonisch abgegrast und eine Fülle der schönsten Studien zusammengebracht. Seit 14 Tagen steht er im Schluß-Examen, welches gestern zu Ende gegangen ist. Morgen findet die Censuren-Vertheilung statt. Wie mir Theodor Fischer, einer der Examinatoren mittheilt, hat er sehr gut abgeschnitten. Für seine Zukunft wird es von großer Bedeutung sein, daß Fischer große Stücke auf ihn hält. Auch unsere Tochter Marianne hat während ihres Aufenthaltes in Tenerifa im Zeichnen und Malen große Fortschritte gemacht; sie soll im Winter metho-||dische Schulung bekommen.

Kürzlich schrieb Stahl in Angelegenheiten der Ritter-Professur an mich. Dabei theilte er mir auch Erfreuliches über Ihre geistige und körperliche Frische mit, was mich sehr erfreut hat. Daß Sie durch Ihren Beinbruch an freier Bewegung sehr gehemmt sind, ist ja begreiflich. Das war ja von Anfang an nicht anders zu erwarten. Immerhin scheint doch einige Besserung eingetreten zu sein. Hoffentlich hat die Schmerzhaftigkeit aufgehört, damit Sie rückblickend in die Vergangenheit den reichen Inhalt Ihres Lebens genießen können, ohne durch körperliche Leiden allzu sehr in in ihrer Stimmung getrübt zu werden.

Meine Schwiegermutter geht jedes Jahr gebückter, ist aber noch eine rüstige Fußgängerin und geistig von unverwüstlicher Regsamkeit. Sie wie meine Frau, welcher es unausgesetzt gut geht, laßen sich Ihnen freundlichst empfehlen.

Herzlichst grüßt Sie und Ihre liebe Frau

in alter Freundschaft und Verehrung

Ihr

R. Hertwig

a korr. aus: guter

 

Letter metadata

Verfasser
Empfänger
Datierung
06.08.1913
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 30551
ID
30551