Richard Hertwig an Ernst Haeckel, München, 7. Mai 1914
München Schackstr. 2III d. 7. Mai 1914.
Hochverehrter und lieber Freund!
Meine Frau und ich haben uns herzlichst über den schönen Verlauf der Feier Ihres 80. Geburtstages gefreut. 1600 Glückwünsche! Das ist ja ganz enorm und übertrifft die kühnsten Erwartungen. Aber am meisten hat mich doch gefreut, daß Sie den Tag in so außergewöhnlicher Frische angetreten haben. Dr. Schaxel war vor 14 Tagen in München und erzählte mir, daß Ihr Bein a sich wieder so weit gebessert hat, daß Sie ohne Krücke gehen und sogar kleine Spaziergänge unternehmen können. || Von demselben Gewährsmann erfuhr ich dann ferner, daß Ihr Sohne einen Buben bekommen hat, so daß Ihre Familie nun auch im Mannesstamm weiter lebt. Ich möchte Ihnen und Ihrer Frau zum Haeckel-Enkel herzlichst gratuliren und wünschen, daß der junge Erdenbürger in Zukunft einmal seinem Großvater Ehre macht.
Mit meiner Frau und Tochter war ich 14 Tage ultra montes. Wir hatten die Absicht die ganze Zeit in Florenz und Siena zu verbringen. Allein die innenpolitische Situation in Florenz wurde zu bedenklich. Alle Eisenbahn-arbeiter und Beamten, dergleichen die Post- und Telegraphenbeamten drohten in Ausstand zu treten. Da || entschlossen wir uns Oster Sonntag nach unserer Burg Persen zu fahren und die letzte Woche daselbst zu verleben. Die 8 Tage in Florenz habe ich gründlich genossen. Die Gegend ist ja von wunderbarer Schönheit, namentlich wenn man Gelegenheit hat, sie im Schmuck eines so außergewöhnlich schönen Frühjahrs wie in diesem Jahr zu geniessen. Wir vertheilten die Zeit in der Weise, daß wir am Morgen Museen, Paläste und Kirchen besuchten, den Nachmittag zu Ausflügen benutzten. Mit dem Aufenthalt in Burg Persen waren wir auch sehr zufrieden. Die Burg hat sich ausserordentlich verschönt, der Fremdenbesuch ist ein glänzender. Der Aufenthalt auf || der Burg ist vermöge der Schönheit und Mannichfaltigkeit der Aussicht mir immer ein wahrer Genuß.
Mit Interesse habe ich in Ihrem Brief gelesen, daß Sie eifrig an Ihren Lebenserinnerungen schreiben. Wer ein so reiches Leben hinter sich hat, ist seiner Mit- und Nachwelt ein Lebenswerk schuldig. Ihren vielen Freunden, Schülern und Verehrern werden Sie damit eine große Freude machen. Vielen Dank auch für Ihre letzte Schrift über Gott-Natur! Ich bewundere die in ihr zum Ausdruck kommende geistige Frische und die glänzende Diction. Mir würden vielerlei Scrupel und Zweifel es unmöglich machen, eine so einheitliche, auf tiefster Überzeugungstreue aufgebaute Weltauffassung mit solcher Wärme vorzutragen. Für Sie gilt immer noch der schöne Vers: Wer freudig thut, sich des Gethanen freut. Möge b noch lange für Sie diese Palme des Glücks erhalten bleiben.
Herzlichste Grüße sendet Ihnen in alter Vereh-c||rung und treuer Anhänglichkeit
Ihr R. Hertwigd
a gestr.: auch; b gestr.: das; c Text weiter am oberen Rand von S. 4: Herzlichste … Vereh-; d Text weiter am oberen Rand von S. 3: rung … R. Hertwig