Richard Hertwig an Ernst Haeckel, Berchtesgaden, 16. September 1881

Berchtesgaden den 16. Sept. 1881.

Hochgeehrter Herr Professor!

Heute sind wir am Schluß unserer Tiroler Reise angelangt. Von Hallein aus haben wir gestern einen Abstecher nach Berchtesgaden gemacht und sitzen jetzt, während der Regen draußen herniederströmt, im Hotel, den Zeitpunkt erharrend, wo der Himmel sich aufhellt und es uns möglich sein wird den Königssee zu besuchen. Inzwischen werden wir einmal das Bergwerk befahren. Zum Glück kam uns unser Reisegefährte, das schlechte Wetter, dahinein || nicht folgen.

Unsere Tour haben wir in der ursprünglich projectirten Weise nicht ausführen können. Wir wurden in Innsbruck gezwungen, Zillerthal und Oetzthal aufzugeben und direct nach Bozen und Meran zu fahren, wo wir zwei schöne Tage verlebten. Von da aus machten wir einen Abstecher nach dem Ortler, verließen das Vintschgau bei Schlanders, um durch das Martellthal, über das Madritschjoch und die Schöntaufspitze nach Sulden zu gelangen. Die Schöntaufspitze ist eine der herrlichsten Alpenpartien, welche dem Gorner Grat ebenbürtig zur Seite gesetzt werden kann. Sie liegt auf dem mittleren von den 3 Kämmen, welche die Ortlergruppe bilden, dem Ausstrahlungspunkt sehr genähert, so daß man nach links und rechts auf || die herrlich geformten Spitzen des Ortlergebiets und die zahllosen abfallenden Gletscher sieht. Auf der Tour waren wir sehr vom Wetter begünstigt und hatten ausserordentlich angenehme Reisebegleiter, ein Herr und Frau Pönsgen. Frau Pönsgen ist in Bonn erzogen und ist mit Bleeks sehr befreundet; sie hat Ihre Bekanntschaft in Bonn gemacht und ist eine eifrige Leserin Ihrer Schriften; auch ihr Mann hat viel Interesse für Naturwissenschaften, so daß sich viel Anknüpfungspunkte boten.

Sulden haben wir nur im Nebel gesehen; die Stilfser Jochstraße ließ sich anfänglich auch schlecht an; doch hatten wir auf dem Hin- und Rückweg schönste Aussicht vom „weißen Knott“, welcher alle meine Erwartungen weit übertroffen hat. || Auch beim Besuch des Ampezzothales und der Glockner-Umgebung war das Wetter sehr unbeständig. Wir können daher noch von Glück sprechen, daß wir auf einem Höhepunkt der Dolomiten (Tondi di Faloria) und auf der Franz-Josephshöhe klare Aussicht und prächtige Beleuchtung hatten.

Für Sie naht wohl bald der Tag der Abreise. Noch einmal von Oscar und mir die wärmsten und herzlichsten Wünsche, daß Ihnen der Aufenthalt in Ceylon reiche wissenschaftliche Ausbeute und vollen Genuß der Tropenwelt bieten möge! Uns würde es ein großes Vergnügen bereiten, wenn wir in irgendwelcher Weise dazu ein wenig beitragen könnten, und bitten wir Sie nochmals, sich an uns zu wenden, wenn Sie etwa vergessene Utensilien nachgesandt haben möchten.

Viele Grüße an Sie und Ihre Familie und ein herzlichstes Glückauf! auf die Reise von Oscar und Ihrem treu ergebenen

Richard Hertwig

Brief Metadaten

ID
30448
Gattung
Brief ohne Umschlag
Entstehungsort
Entstehungsland aktuell
Deutschland
Entstehungsland zeitgenössisch
Deutsches Reich
Datierung
16.09.1881
Sprache
Deutsch
Umfang Seiten
4
Umfang Blätter
2
Format
11,3 x 18,1 cm
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 30448
Zitiervorlage
Hertwig, Richard an Haeckel, Ernst; Berchtesgaden; 16.09.1881; https://haeckel-briefwechsel-projekt.uni-jena.de/de/document/b_30448