Richard Hertwig an Ernst Haeckel, Messina, 19. November 1876

Messina den 19ten November 1876.

Hochverehrter Herr Professor!

Seit vierzehn Tagen sind wir in Messina und haben uns häuslich eingerichtet. Unsere Wohnung haben wir in der Trinacria genommen, da kein geeigneter Privatlogis, namentlich kein Zimmer in der Nähe des Meers und mit genügender freier Luft und freiem Himmel, zu finden war. Wir bewohnen gemeinsam ein großes nach dem Hafen zu gelegenes Zimmer, in dem wir sowohl schlafen wir arbeiten und zahlen dafür monatlich 65 frs. Zum Fischen sind wir leider noch wenig gekommen, da bisher das Wetter recht ungünstig war. Wir waren zweimal ausgefahren, mußten uns aber beides mal auf die pelagische Fischerei beschränken, das eine Mal, weil wir noch nicht genügend eingerichtet waren, das andere Mal weil es zu regnen anfing. Pelagia war aufa beiden Ausfahrten sehr häufig, ebenso kleine Medusen und Salpen, dagegen haben wir keine Heteropoden gefangen ausser einigen kleinen Firola. Besonders ergiebig war der Radiolarienfang: zahlreiche Acanthometren und Aulacanthen einige Rhizosphaeren und Heliosphaeren, ferner Thalassicolla pelagica, einmal die gewöhnliche, dann die Varietät (oder besondere Art?) mit rubinrothen Oelkugeln auf der Oberfläche || der Centralkapsel die Sie auch auf Lanzerote beobachtet haben. Die Ausbuchtungen des Thalassicollenbinnenbläschens waren dadurch von Interesse, daß sie Binnenkörper, Nucleoli, enthielten; ausser dem Binnenbläschen enthält die Centralkapsel keine Kerne, sondern nur Vacuolen. Ein Binnenbläschen mit schönen Nucleoli habe ich ferner bei Heliosphaera actinota und Aulacantha, Arten von denen Sie es ebenfalls beschrieben, gefunden, außerdem noch bei Rhizosphaera. Die Acanthometren enthalten für gewöhnlich zahlreiche Kerne wie die Sphaerozoen, einige welche wahrscheinlich von der Entwicklung von Schwärmern nicht sehr weit entfernt waren, scheinen fast nur aus kleinen, dicht aneinander gelagerten Kernen zu bestehen. Von besonderm Interesse war mir eine junge Acanthometra, bei der das Skelet schon angelegt war und welche gleichwohl nur einen einzigen großen Kern enthielt. Würde derselbe nicht durch die Anordnung der Stacheln verhindert gewesen sein eine centrale Stellung einzunehmen so würde man das Gebilde ebenfalls als Binnenbläschen bezeichnen können. – Unter den genannten Objecten scheint mir namentlich die Aulacantha zu entwicklungsgeschichtlichen Studien geeignet; auch scheint mir hier die Central-Capsel Mancherlei eigenartiges im Bau zu besitzen.

Oscar hat einige Muscheln auf die ersten Entwicklungs-||vorgänge der Eizelle hin untersucht und ist hier zu im Wesentlichen denselben Resultaten gelangt wie bei den Hirudineen. Das Gleiche scheint bei den Seesternen der Fall zu sein. Hoffentlich bekommen wir bei unserer nächsten Ausfahrt Pteropoden und Heteropoden.

Zum Spazierengehen sind wir noch wenig gekommen. Wir haben einmal einenb über dem Camposanto gelegenen Hügel mit Kirche besucht, ein anderes Mal sind wir der Straße nach Palermo entlang gegangen, bis zu einem Punkt, wo man einen freien Blick nach dem Meer zu hat. Uns überraschte die ausserordentliche Mannigfaltigkeit der Scenerie, die die von Messina landeinwärts führenden Thäler und Schluchten bieten. Es muß sich hier eine Fülle schöner Ausflüge machen lassen.

Das Wetter war bisher noch recht warm; meistens wehte Scirocco und herrschte dann selbst Abends noch eine so schwüle und warme Temperatur, daß man ohne Sonnenüberzieher hätte im Freien sitzen können. Seit gestern haben wir Nordwind; gleichwohl zeigte heute Nachmittag das Thermometer noch 14°R. Wie ich aus einem heute erhaltenen Brief sehe ist es in Deutschland schon recht empfindlich kalt. Da merkt man doch daß man um einige Breitengrade südlicher ist.

Von hiesigen Deutschen haben wir bisher nur Klo-||stermann aufgesucht. Er und seine Familie haben uns recht gefallen. Bei Jägers werden wir erst Besuch machen, wenn Jägerc der nach England verreist ist, zurück gekehrt sein wird. Es leben hier jetzt ziemlich viel junge deutsche Kaufleute, die selbstverständlich sehr zusammenhalten. Mit einem Theil derselben essen wir Abends zusammen im Ristorante della Venezia.

Meine Arbeit über Spirochonia habe ich vor meiner Abreise an Duft eingeschickt. Es wäre mir lieb wenn die Correcturbogen nach Messina gesandt werden könnten. Die Postsendung dauert 4–5 Tage hin, 4–5 Tage zurück; in spätestens 10 Tagen könnten somit die Correcturen wieder in Jena sein. In welchem Heft wird die Arbeit erscheinen?

Mit besten Grüßen an Sie und Ihre Familie

Ihr treu ergebener

Richard Hertwig

Von Oscar beste Grüße.

a korr. aus: bei; b korr. aus: ein; c korr. aus: der

Brief Metadaten

ID
30426
Gattung
Brief ohne Umschlag
Entstehungsort
Entstehungsland aktuell
Italien
Entstehungsland zeitgenössisch
Italien
Datierung
19.11.1876
Sprache
Deutsch
Umfang Seiten
4
Umfang Blätter
2
Format
14,1 x 21,8 cm
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 30426
Zitiervorlage
Hertwig, Richard an Haeckel, Ernst; Messina; 19.11.1876; https://haeckel-briefwechsel-projekt.uni-jena.de/de/document/b_30426