Hertwig, Richard

Richard Hertwig an Ernst Haeckel, Helgoland, 6. September 1874

Helgoland den 6ten September 1874.

Hochverehrter Herr Professor!

Sie werden mir wohl böse sein, daß ich, nunmehr schon vier Wochen von Jena fort, noch Nichts habe von mir hören lassen. Der Grund meines Schweigens ist weniger in Schreibfaulheit als vielmehr darin zu suchen, daß ich Ihnen gern von dem Fortgang meiner Arbeit berichten und deßhalb warten wollte, bis ich Ihnen sichere Resultate mittheilen könnte. Die ersten 14 Tage meines Helgoländer Aufenthalts, während deren Papa und die übrigen Reisebegleiter noch hier waren, bin ich aus leicht verständlichen Gründen mit meiner Arbeit nicht recht in den Zug gekommen. Außerdem machte mir anfänglich die Beschaffung des Materials zur Arbeit Schwierigkeiten, so daß ich zu einer geregelten Arbeitsweise erst während der letzten anderthalb Wochen gelangt bin.

Da ich bei unseren wenigen pelagischen Fischzügen keine Acanthometren gefunden habe, verzichte ich auf eine Untersuchung der Radiolarien, für die wird mein Aufenthalt in Messina ohnedies günstigere || Verhältnisse bieten wird. Als Hauptziel meines Helgoländer Aufenthalts betrachte ich die Untersuchung der Foraminiferen. Ein Theil meiner Aufgabe ist im Verlauf der letzten Woche glücklich gelöst, indem es mit geglückt ist bei jungen Miliolen und einer kleinen noch genauer zu bestimmenden Acervuline mit Sicherheit Kerne nachzuweisen. Dieselben besitzen die für alle Süßwasserrhizopoden typische Form einer mit einer deutlich doppelt conturirten Membran versehenen Blase, in deren Centrum ein ovales oder rundliches, homogenes Kernkörperchen suspendirt ist. Bei jungen einkammrigen Formen findet sich zunächst nur ein Kern, bei größeren vielkammrigen deren mehrere. Ob die Anzahl der Kerne zur Anzahl der Kammern in einem bestimmten Verhältniß steht, kann ich zur Zeit noch nicht entscheiden und werde ich der großen Schwierigkeiten beim Nachweis der Kerne halber noch zahlreiche Untersuchungen anstellen müssen. Nach meinen bisherigen Beobachtungen zu schließen sind stets weniger Kerne als Kammern vorhanden. Auch sind die Kerne nicht in der Weise gleichmäßig vertheilt, daß jede Kammer bei der Kernvermehrung ihren eigenen || Kern erhielte. In allen Fällen die ich untersucht habe, fanden sich in der ersten (ältesten) Kammer mehrere Kerne, und nur wenige vereinzelt in den folgenden Kammern. Die Frage nach der Anzahl und der Vertheilung der Kerne scheint mir deßhalb der Untersuchung zu bedürfen, weil sie wichtig ist bei der Beurtheilung in wie weit bei der Bestimmung der Individualität der Foraminiferen der Vielkammerigkeit Bedeutung zuzumessen ist.

Unter den beobachteten Formen ist auch eine Gromienart, wahrscheinlich Gromia Dujardini, deren eigenthümliche Pseudopodien von Interesse sind. Dieselben entspringen in dicken Strängen, allmählig sich wie Besenreißer zertheilend. Jeder Strang sieht aus, als ob er aus zahlreichen Fädchen bestünde, welche zopfartig verflochten wären; man könnte leicht versucht sein, à la Reichert anzunehmen, daß zahlreiche feinere Fäden zu dickeren Strängen zusammentreten und daß die Verästelung nur eine Täuschung sei, daß in Wirklichkeit es nur Auseinandertreten vorher schon discreter Fäden sei. Ich habe mich nun überzeugt, daß das Bild einer zopfartigen Verflechtung nur eine Folge von spiraligen Faltungen der Oberfläche ist, welche durch eine Torsion des Pseudopodium um seine Linksaxe erzeugt werden. Möglicherweise || hat Reichert dieselbe Gromie untersucht und ist so zu seiner verdrehten Auffassung gelangt.

Den auf Hydroidpolypen festsitzenden Organismus, welchen Sie mir zur Untersuchung empfohlen haben, habe ich in reichlicher Anzahl vorgefunden. Soweit ich aus meinen bisherigen Beobachtungen über den Bau und die Fortpflanzung schließen kann, ist derselbe kein Rhizopod, sondern eine Acinete; deren Tentakeln der Knöpfchen entbehren und in Folge dessen Pseudopodienähnlich aussehen. Bei Schwärmern, die mit einer Wimperreihe (nicht mit Geißeln) ausgestattet sich vom Mutterthier ablösen, habe ich in der That auch geknöpfte Tentakeln beobachtet. Morgen werde ich mir neues Material holen und hoffe demnächst Ihnen Ausführlicheres mittheilen zu können.

Heliozoen habe ich ebenso wie andere Rhizopoden und Amoeben nur äußerst spärlich gefunden, umso mehr Acineten. Ich werde daher letztere neben den Foraminiferen untersuchen.

Die nächsten 14 Tage werde ich noch in Helgoland bleiben, und dann über Bremen nach Bonn reisen, wo ich Oscar nach langer Zeit zu besuchen gedenke. Jedenfalls erhalten Sie noch vor meiner Abreise von hier weitere Nachricht.

Mit der Bitte mich Ihrer Frau Gemahlin und Ihren Verwandten bestens zu empfehlen, grüße ich Sie herzlichst

als Ihr treu ergebener

Richard Hertwig.

Beste Grüße von Frau Claus Stoldt.

 

Letter metadata

Verfasser
Empfänger
Datierung
06.09.1874
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 30419
ID
30419