Carl Hauptmann an Ernst Haeckel, Schreiberhau, 27. März 1893

Schreiberhau. 27. III. 93.

Hochverehrter Herr Professor.

Nach mehrmonatlicher Abwesenheit von Hause bin ich erst vor Kurzem hierher zurückgekehrt. Verzeihen Sie mir gütigst, wenn ich Ihnen desshalb erst so spät für Ihr schönes Geschenk des „Monismus“ danke, das ich hier vorfand. Ich bin bin [sic] Ihren Ausführungen über diese tiefgründigen Fragen des menschlichen Wissens mit grösster Freude gefolgt und fühle mich insbesondere eins mit Ihnen in der Bekämpfung des „Bewusstseins“ oder der „Seele“ als eines „spontanen, rationalen Agenz“ der Körperwelt, das uns wohl gar, wie manche möchten, die Entwickelung der Organismen plausibel machen soll. Nur in einem Betracht kann ich mit Ihnen nicht eines Sinnes sein: dass die wissenschaftliche Psychologie als Theil der Physiologie zu gelten habe. Es ist das der || Gesichtspunkt, den M. Verworn von Ihnen acceptirt hat, und den ich mir die Freiheit nahm in meinem Buche einer gegentheiligen Besprechung zu unterziehen. Mich erfreut der Gedanke, dass Sie, hochverehrter Herr Professor, meine Darlegungen darüber nicht ganz haltlos finden möchten. Es scheint mir unerlässlich, die gegebenen Sachverhalte in den beiden Modis ihrer Erscheinungsweisea auseinander zu halten. Der Zweig der Wissenschaft, der sich mit der „Körperlichkeit“ beschäftigt, hat mit der „geistigen“ Erscheinungsweise zunächst nichts zu thun. Die „Seele“ ist nicht der „Leib“. Bei Spinoza war auch die Einheit nur die sich zwiefach darstellende Substanz, eine metaphysische Wesenheit hinter den sinnfälligen Sachverhalten. Da wir aber heut zu Tage mit einem so ungegliederten Substanzbegriff nichts mehr anfangen können, weil wir daraus nichts Besonderes abzuleiten ver-||mögen; da wir vielmehr nach Funktionsbegriffen streben, so wird uns grade diese Einheit der Dinge wieder zum Rätsel. Der Weg zu dessen Lösung kann wohl kein anderer sein, als die „Körperlichkeit“ ebenso in ihrer geschlossenen Gesetzmäßigkeit durch streng objectiv physiologische Forschung, wie die „Seelenhaftigkeit“ durch psychologische Forschung aufzudecken. Dabei bedeutet es unzweifelhaft einen bedeutenden Fortschritt, dass man der Gesetzmässigkeit der „psychologischen“ Phaenomene sich im Anschluss an die physiologische Einheitsbildungen specieller Organismengruppen zu bemächtigen sucht, und nicht, wie z.B. Herbart that, dazu gänzlich fremde physikalische Analogieen heranzieht. Unter diesem Gesichtspunkt scheiden sich die Aufgaben psychologischer und physiologischer Forschung, nur dass dabei eine weitere monistische Hoffnung sich ergiebt: Denn da das „Psychische“ und „Physische“ zusammen || erst in gegenseitiger Determination entstehenb, wodurch jedes von beiden – sofern es unabhängig vom andern zum Weltelement gemacht wird, – zu einem qualitätlosen, blos numerischen Element herabsinkt, d.h. seines Unterschiedes gegen das andere völlig verlustig geht, so muss, wenn die Ansicht des strengen Parallelismus zu Recht besteht, der Ausdruck der Gesetzmässigkeit des einen sich decken mit dem des andern. Das wäre dann ein Weltbegriff, der in seiner Gliederung beiderlei Erscheinungsweisen der Dinge in ihrer Gesetzmässigkeit gleichzeitig ausdrückte, und der benutzbar wäre zur Berechnung des Einzelnen und zum Handeln. –

Ich glaube Ihnen, hochverehrter Herr Professor, dies ausführlicher sagen zu dürfen, weil Ihr freundlicher Brief, für den ich Ihnen herzlichst danke, mich dazu auffordert. Ihr

Ihnen aufrichtig ergebener

Carl Hauptmann

a korr. aus: Erscheinungsweisen; b korr. aus: entsteht

Brief Metadaten

ID
30345
Gattung
Brief ohne Umschlag
Entstehungsland aktuell
Polen
Entstehungsland zeitgenössisch
Deutsches Reich
Datierung
27.07.1893
Sprache
Deutsch
Umfang Seiten
4
Umfang Blätter
2
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 30345
Zitiervorlage
Hauptmann, Carl an Haeckel, Ernst; Mittelschreiberhau (Szklarska Poręba); 27.07.1893; https://haeckel-briefwechsel-projekt.uni-jena.de/de/document/b_30345