Carl Hasse an Ernst Haeckel, Breslau, 15. Januar 1874

Breslau d. 15ten Jan 1874.

Verehrter Herr College!

sie haben mir durch Ihre freundlichen Zeilen und durch die nachsichtige Beurtheilung meines Tuns, Leidens und Denkens eine große Freude bereitet. Ich gestehe, was abgesehen von vielem anderen mich bedauern läßt nicht nach Jena gekommen zu sein ist, daß mit meiner Übersiedelung hierher ich der Aussicht beraubt bin Ihnen persönlich nahe zu treten und mit Ihnen zu verkehren. Ich weiß nicht ob nicht einmal ein Zeitpunkt kommen wird, nur ich bedaure nicht, trotzdem daß Alles abgemacht war, gebrochen zu haben. Das Feld der Thätigkeit ist so ein ungeheures und läßt sich wohl kaum mit einem anderen auf anderen deutschen Universitäten vergleichen, denn sein 50 Jahren liegt die anatomische Wissenschaft, nicht die Massenanatomie hier brach. Da gilt es überall Hand an zulegen, überall was zu schaffen und nicht allein in aufreibender Lehrthätigkeit den Principien der vergleichenden Morphologie hier Bahn zu brechen und im lernenden Publikum in Fleisch und Blut überzuführen sondern auch überall im Sammlungsmaterial zu bessern. Ich bin reich, sehr reich an anatomischen Material und an vergleichend anatomischen, allein alles ist in einseitiger Richtung entwickelt. Anatomisch hauptsächlich die trockenen Injektionspräparate, vergleichend anatomisch die höheren Wirbelthierclassen von den Vögeln aufwärts. Die Anforderungen der Neuzeit ist gar kein oder ungenuegend Genüge gethan. Dazu kommt nun noch ein Institut, mit dessen Baulichkeiten Nichts anzufangen, das in einem vorsintflutlichen Stadium. Wie weit || meine Kraft a hier helfend und bessernd in allen Richtungen vorzupreschen und Neues zu schaffen reichen wird, ich weiß es nicht und dabei treibt es mich auch wieder meine literarische Thätigkeit aufzunehmen. Das, was mich tröstet, ist, daß ich die Möglichkeit mir sehe alles nach meinem Sinn zu schaffen und daß man mir von keiner Seite bösen Willen entgegen trägt und namentlich das Studentenpublikum auch sich dankbar erweist. Vor allem reizt mich aber der Umstand, daß ich an einer Universität bin, an der ich die nothwendige Verbindung von Anatomie und vergleichender Morphologie ex officio herstellen b und somit eine anatomische Professur schaffen kann, wie sie nur an wenigen Universitäten besteht, und wo sie doch so nothwendig. Als drohendes Gespenst der Zukunft steht nur unsere isolirte Lage und die provincielle Natur unserer Alma mater. Freilich wäre ich überall anderswo mehr in Abrahams Schoß hineingefallen wie hier, aber jacta est alea und Sie dürfen versichert sein so lange die Kraft reicht, haben Sie in mir keinen braven Zwerg und keine faule Stütze für das Gebäude, das Sie mit Bravour aufzurichten begonnen. Schließlich können Sie noch, wenn alles hier reißen sollte, falls es dann noch der Mühe werth, mich in Watte packen und aus östlicher in westliche Erde verpflanzen.

Ihre Gastraea-arbeit habe ich studirt und verhehle Ihnen meine innige Freude über dieselbe nicht, die eine um so größere, weil darin namentlich mit Bezug auf die Genealogie in dem Thiereiche Anschauungen niedergelegt, die den Meinigen auf begrenzterem Gebiete gewonnenen mehr entsprechen, als die von Ihnen zuerst zerstreuten.

Ich meine, verzeihen Sie meine Aufrichtigkeit, daß Sie noch mit keiner für das enge wissenschaftliche Publikum bestimmten Arbeit einen so glücklichen und großartigen Wurf gethan wie mit dieser und daß keine so sicher fundirt, wie diese. Ich bringe Ihnen, falls dieselbe für Sie einen Werth, meine aufrichtigste Anerkennung. Sie stehen jetzt auf einem Boden, von dem Sie meines Erachtens keiner zu verdrängen vermag, da Sie das Gemeinsame im ersten Werden sicher erkannt und in den meisten Fällen die perfekten || Thatsachen vorgebracht. Wie hat mich da in diesen Tagen die neue entwicklungsgeschichtliche Arbeit Götte’s gefreut. Ich denke mir Ihnen geht es anders. Fügt sich doch All erstens dieser sorgsame, nüchterne und wie mir scheint auch allgemeinen Fragen nicht fernstehende Forscher Ihrer Gastraea unter. His freilich und Consorten werden blau vor Ärger werden, daß ihr mechanisch mystisch physiologischer Zauber so zu Wasser wird und auf ihrem eigensten Gebiete Kehraus gemacht wird. Wie lange soll sich denn diese histologisch entwicklungsgeschichtliche Detailkrämerei noch breit zu machen Gelegenheit haben und die erste Geige spielen. Sie finden kaum so viel werth wie die Massenanatomen, die doch unmittelbar wenn auch nur als Diener die praktische Medizin fördern.

Mit großem Interesse habe ich auch neulich die Molluskenarbeit meines Freundes Eimer gelesen. Leid thut es mir nur, wie ich ihm das selber auch nicht verhehlt, daß sein Beweis für die aktiv-linirte Natur nicht sticht, da ihm die Fortentwicklung seiner biologischen Einheit zu selbstständigen Wesen nachzuweisen die Zeit gefehlt. Die Arbeit ist wieder gährender Most, allein ich finde c noch jedesmal desselben, unverhofft guten Jahrgang und das kann man nicht von allen jüngeren Zoologen sagen. Mit herzlichem Gruß und um Absolution für mein Geschmier bittend verbleibe ich

Ihr ergebener

C. Hasse.

Sollten Sie im Stande sein mir von Spongien Tunicaten Bryozoen und Mollusken irgend etwas abzulassen, so werde ich Ihnen sehr dankbar sein. Mit Ausnahme eines gekochten Hummerskelettes besitzt unsere Sammlung von Mollusken nichts Gescheites und nochmals habe ich zu bedauern, daß das Fleisch mit guter Mayonnaisesauce mir nicht zu Gebote steht. Ich werde wohl nächstens d die Wirbelfrage vornehmen, da ich in sehr vielen wesentlichen Punkten mit Gegenbaur differire.

a gestr.: reichen wird; b gestr.: kann; c gestr.: ich; d irrtüml. doppelt: werde

Brief Metadaten

ID
30251
Gattung
Brief ohne Umschlag
Verfasser
Entstehungsort
Entstehungsland aktuell
Polen
Entstehungsland zeitgenössisch
Deutsches Reich
Datierung
15.01.1874
Sprache
Deutsch
Umfang Seiten
3
Umfang Blätter
2
Format
14,4 x 22,9 cm
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 30251
Zitiervorlage
Hasse, Johann Carl an Haeckel, Ernst; Breslau (Wrocław); 15.01.1874; https://haeckel-briefwechsel-projekt.uni-jena.de/de/document/b_30251