Carl Hasse an Ernst Haeckel, Breslau, 20. Dezember 1873

Breslau d. 20ten Dec. 1873

Geehrter Herr Kollege!

Auf die Gefahr hin Ihre kostbare Zeit zu rauben, wage ich es dennoch Ihnen mit meinen Hieroglyphen zu nahen. Wie schon früher, so haben Sie mir auch heute wieder Beweise Ihres Wohlwollens und Ihrer Theilnahme gegeben, die ich um so höher schätze, als Sie von einem Manne stammen, dessen Grundanschauungen den meinigen conform, besser gesagt, dessen Principien die meinen mit bedingt. Ich danke Ihnen herzlich für die Übersendung Ihrer neuesten Arbeit über die Gastraeatheorie. Daß ich dieselbe noch nicht durchstudirt, werden Sie bei der Kürze der Zeit begreiflich finden, und dennoch bin ich so unverschämt einige Bemerkungen daran zu knüpfen, weil das, was diese Arbeit bringt und frühere (Kalkschwämme) gebracht, Ansichten Ausdruck verschafft, die bei mir festen Fuß gefaßt. Ontogenie und Phylogenie decken einander, und ohne dieses Princip ist kein weiterer Fortschritt denkbar. Es muß der Angelpunkt unsrer Untersuchungen sein, die Richtigkeit oder Unrichtigkeit dieses Princips nachzuweisen. Was nicht dieses Ziel vor Augen hat, ist untergeordneter Bedeutung ‒ His und Consorten sind damit abgethan und sind es von vorn herein schon deswegen, weil sie die Antwort auf die Frage schuldig geblieben sind, was ist die Ursache des Entstehens der famosen Briefcouvertform der embryonalen Anlage und || was berechtigt uns zur Annahme der Gleichartigkeit der ein Zipfel. Trotz alles mathematisch physikalischen Bombastes ist die Sache Unsinn. Ich glaube die Wissenschaft kann über solche Autoren zur Tagesordnung übergehen und das Beste für Sie ist, wenn solche Bestrebungen wie die Rede über die Aufgaben der mechanischen Wissenschaft mit Stillschweigen übergangen werden. Der Rahmen, in dem sich die Forschung der nächsten Zeit zu bewegen hat, ist von Darwin und Ihnen vorgezeichnet, es handelt sich um die Ausfüllung und damit um die Bestätigung oder Nichtbestätigung des Princips und da thut es einem leid, wie so viele Kräfte sich in unfruchtbaren Gebieten bewegen, wobei es sich nur um Kleinigkeiten handelt, die nicht mehr als ephemeren Werth besitzen, während das Princip, das jetzt aufgestellt, weit in andere Gebiete des Wissens eingreift und die Aussicht eröffnet auf logische Weise bis zur Endursache des Kerns hindurchzudringen, insofern es die klare Möglichkeit der Anwendung auf andere Gebiete des menschlichen Denkens und Beobachtens zuläßt.

Wie gern wäre ich Ihnen persönlich nahe gerückt und wie oft steigt die Sehnsucht in mir auf, um so mehr weil ich hier bis jetzt noch Keinen gefunden, der so eigentlich die Bedeutung des Darwinschen Princips erfaßt und anerkennt. An geistigem Austausch und an geistiger Anregung, wie ich es in Jena gefunden haben würde, ist demnach hier nicht zu denken. Dennoch hat meine hiesige Stellung einen großen Reiz. Die Morphologie ist hier vollständig vernachlässigt, man hat keine Ahndung von ihrer Bedeutung. Ich habe mir die Aufgabe gestellt, soweit es in meinen Kräften steht die Studenten darin einzuweisen und sie mit den Gedanken der Neuzeit auf diesem Gebiet vertraut zu machen, und ich hoffe, dass es mir gelingen wird. Die Aufmerksamkeit und die Theilnahme der Studenten läßt wenigstens nicht viel zu wünschen übrig. Es gilt aber ein vollständig braches Feld zu beackern. Die Arbeit ist groß und der Wille gut, möchte mir die Kraft zur Durchführung reichen. Was mir || schon dabei auf’s Herz fällt, ist nur der Umstand, daß ich für einige Zeit literarisch todt bin, allein vielleicht schätzen sie das auf meine Produktivität als nur wenig bedeutendes Unglück ein und das würde mich beruhigen. Das multa sed non multum ist zwar unangenehm aber doch immer lehrreich für die Zukunft. Mit ausgezeichneter Hochachtung und herzlicher Ergebenheit

Ihr

C. Hasse

Sollte es nicht bald einmal an der Zeit sein den kritischen Gegnern Semper’s etwas antikritisch zu begegnen.

Brief Metadaten

ID
30250
Gattung
Brief ohne Umschlag
Verfasser
Entstehungsort
Entstehungsland aktuell
Polen
Entstehungsland zeitgenössisch
Deutsches Reich
Datierung
20.12.1873
Sprache
Deutsch
Umfang Seiten
3
Umfang Blätter
2
Format
14,1 x 22,0 cm
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 30250
Zitiervorlage
Hasse, Johann Carl an Haeckel, Ernst; Breslau (Wrocław); 20.12.1873; https://haeckel-briefwechsel-projekt.uni-jena.de/de/document/b_30250