Jacob Koltan an Ernst Haeckel, Heidelberg, 9. Januar 1919

Offener Brief an den Urheber des DMB. Ernst Haeckel in Jena.

Hochverehrter Ehrenpräsident!

Als im Beginn des Jahres 1914 die Gelehrtenwelt Ihr 80jähriges Jubiläum feierte, hatte wohl kein Mensch eine Ahnung davon, daß die Menschheit dicht vor einer ungeheuerlichen Weltkatastrophe steht. Die Balkanwirren waren eben zu Ende, und die „geschmeidige“ Diplomatie jubelte, daß es ihr gelungen sei, den drohenden Weltbrand zu lokalisieren. Man glaubte überall, der Zauberkraft der Diplomatie in der Beschwörung der politischen Leidenschaften viel zutrauen zu dürfen, und konnte man sich in süße Zukunftsträume ruhig versenken. Gewisse Propheten, sog. Pazifisten oder Friedensfreunde, waren freilich immer unruhig und warnten vor den bedrohenden und herausfordernden Wettrüstungen, die angeblich den „Frieden schützen und sichern“ sollten. Aber die erwerbsfrohe und genußreiche Gesellschaft jagte anderen Zielen nach und merkte nichts Drohendes oder Schlimmes. Der Friedensgedanke, der Pazifismus, war bekanntlich in unserem Bunde Trumpf. In freudiger Stimmung konnte der DMB sich an der bedeutungsvollen Feier seines Urhebers beteiligen. Zu jener Zeit des „Triumpfes der friedlichen Wissenschaft“ hatte ich die hohe Ehre, Ihnen, unserm Altmeister, eine Abhandlung zu widmen, die die Überschrift „Gesetz und Ordnung bei der Kulturentwicklung“ trug. Ich darf wohl diese Arbeit als Frucht Ihres erfolgreichen „biogenetischen Grundgesetzes“ betrachten, und ich will hoffen, daß das von mir weitergeführte „psychogenetische Kulturgesetz“ in der Kulturgeschichte einst eine wegeweisende Rolle spielen wird. In dieser Abhandlung glaubte ich die anbrechende „Idealkulturphase der Wissenschaft“ mit hoffnungsvollen Worten begrüßen zu sollen. Da sagte ich unter anderem: „Die wissenschaftliche Kulturperiode, die mit der weitesten Verbreitung der Bildung bei den Kulturvölkern voraussichtlich einmal in gewissem Maße eintreten wird, wird sich der gesetzlichen Wahrscheinlichkeit nach (psychogenetisches Kulturgesetz) durch lange Dauer und relativen Wohlstand und Frieden auszeichnen. Diese schönen Zukunftshoffnungen treten freilich in jeder Weltanschauung auf, aber nur die Wissenschaft wird imstande sein, sie zu verwirklichen. Alle unvermeidlichen Plagen und Streitfragen werden eben durch die ruhige wissenschaftliche Denk- und Forschungsmethode gemildert und geschlichtet werden.“ Weiter heißt es: „Aber auch bei der alten Religion muß die moderne wissenschaftliche Weltanschauung eine Anleihe machen, indem sie das „ethische Moment“ mehr betont.“ Und in der Schlußbetrachtung wird gesagt: „Das psychogenetische Kulturgesetz, welches lehrt, daß es keine Religion für alle Zeiten, alle Völker und alle Menschen gibt, macht es uns begreiflich, warum der Mensch von heute nach einer neuen und freien, wissenschaftlichen und fortschreitenden Weltanschauung sich sehnt. Das psychogenetische Kulturgesetz, welches den Weg der Kulturentwicklung zeigt, weckt in uns die Zuversicht, daß die Ideale der Menschheit und des Völkerfriedens, die schon von den alten Propheten geweissagt, verheißen, aber noch nicht verwirklicht wurden, erst durch die friedliche, aber siegreiche Wissenschaft der Verwirklichung näher gebracht werden.“ („Das monistische Jahrhundert“, Februar 1914. Heft 46/47).

Groß war meine Bestürzung als wenige Monate, nachdem jene Abhandlung des Licht der Öffentlichkeit erblickt hatte, plötzlich wie ein Gewitter an einem heiteren Tag der alles verzehrende Weltbrand ausgebrochen war. Und mit welcher Wucht! Welcher ehrliche, harmlose Mensch konnte auch nur ahnen, daß in der sog. „christlichen Kulturmenschheit“ ein solcher Herd, ja ein Vulkan der niedrigsten Leidenschaften wie Haß und Neid, Habsucht und Herrschsucht, Gemeinheit und Niedertracht, Gewalttätigkeit und Rücksichtslosigkeit und dgl. in aller Stille aufgespeichert werden konnte! Nachbarn, die miteinander im nahen Verkehr standen, sog. „Christen und christliche Kulturvölker“, stürzten sich aufeinander wie ewige Erb- und Todfeinde. Und welche Beweggründe? Oh, Schmach und Schande! Wir wollen übrigens der unparteiischen Weltgeschichte es überlassen, über die Schuldverteilung ein wohl abgemessenes und abgewogenes, nach allen Seiten begründetes und gerechtes Urteil zu fällen. Mich hatte aber noch eine ganz andere Frage geplagt. Wohin führt die so hoch gepriesene Kulturentwicklung? Sollte gerade der Kulturfortschritt zu solchen Kulturkatastrophen führen, sollten gerade die friedlichen Wissenschaften von Machthabern so gewissenlos zu Mordzwecken mißbraucht werden dürfen, dann müßte doch das ganze Fundament meines schönen „Idealkultursystems“, das in jener Abhandlung entworfen war, ins Wanken geraten. Meine Bedenken und Zweifel konnten jedoch nicht von langer Dauer sein, denn das Gesetz, auf dem das System ruhte, konnte unmöglich falsch sein. Nur die Kette der ursächlichen Abhängigkeiten der Kulturerscheinungen von einander ist freilich nicht so einfach gebaut, wie es einem scheinen mochte. Der Weg zum Fortschritt geht eben gar nicht so einfach und gradlinig, vielmehr führt er, bildlich gesprochen, durch Berge, Täler, Wildnisse und Hemmnisse aller Art, die überwunden werden müssen. Ja, der Weg der Entwicklung ist wellenförmig verschlungen und das Gesetz des Geschehens heißt man oft „Wellengesetz“. Nach diesem Gesetz des rhythmisch-periodischen Geschehens“ muß jeder geschichtliche Weg ein Wechselvolles von friedlichen Entwicklungen (Evolutionen) und gewaltsamen Umwälzungen (Revolutionen) darstellen. Gewiß wird es Streit und Kampf immer geben. Aber die blutigen, „planmäßig“ vorbedachten und überlegten Kriege – als entscheidendes Faustrecht! – diese Schmach und Schande muß aus dem Kulturleben ausgeschaltet und ausgerottet werden. Denn Kultur ist Erkenntnis des Rechtes und Überwindung der Leidenschaften! Aber die Entwicklung geht doch vorwärts; denn aus den Wehen des Weltkrieges sind neue Einsichten, Erfahrungen und Lehren, hehre Kulturideale und Lebensziele siegreich hervorgegangen. Jetzt heißt es: Recht geht vor Macht! Leben und leben lassen! Denken und denken lassen! Menschenrecht und Völkerrecht! Völkerfreiheit und Weltfrieden! Das sind gewiß schöne Leitmotive. Sie sind nicht einmal ganz neu, aber erst jetzt soll damit Ernst gemacht werden. Wer hätte es nur denken können, daß im Laufe von etwa einer Woche die „festgefügten Monarchien“ Zentral-Europas in Freistaaten, ja in demokratische und vielleicht auch sozialistische Republiken sich verwandeln würden? Das ist die Macht der Einsicht, der Sieg des Geistes! Das sind Folgeerscheinungen – der Kanonenschüsse! Und es geht doch vorwärts! In diesem Siegeszuge der „Erkenntnis des Wahren, Guten und Schönen“ sollte doch unser DMB., ein Bund für Kulturfortschritt, in den vordersten Reihen marschieren. Aber was kann unser Bund in dieser großen Zeit der Umwälzung und Umwertung der Werte der Menschheit bringen? Ja, er kam und soll eine neue, hehre, ethisch-soziale Religion bringen, die von vielen erwartete Religion des Monismus, die Religion der friedlichen und fortschrittlichen Wissenschaft! Das ist m. E. die ehrenvolle Kulturmission des DMB., der die alten Weltanschauungen bekämpfen zu sollen glaubt. Jedes Volk muß Religion haben, daher kann und muß eine Religion nur durch eine andere ersetzt werden. Das ist eine historisch-psychologische Tatsache, eine Wahrheit, über die sich unser Bund nicht rücksichtslos hinwegsetzen kann und darf! ||

Großer Meister! Vor kurzem habe ich zwei Abhandlungen „Ist der Monismus eine Religion?“ und „Unsere Stellung zur Religionsfrage“ in unseren Bundes-„Mitteilungen“ veröffentlicht. Nun habe ich es noch nachträglich unternommen, unsere monistischen Publikationen während des Weltkrieges genauer zu durchmustern, denn sie waren mir nicht immer zugänglich. Da finde ich in den „Monatsblättern des DMB.“ (Hamburg 1916, Heft 9) Ihren schönen Aufsatz „Monismus und Landeskirche“ (veröffentlicht zuerst im „Jenaer Volksblatt“, 2. Nov. 1916), in dem Sie zur Religionsfrage bereits Stellung genommen haben. Es genügt hier, Ihre Schlußsätze anzuführen, wo es heißt: „Diese offenkundige Ausbreitung der monistischen Philosophie und Religion in weitesten modernen Kulturkreisen berechtigt insbesondere die zahlreichen deutschen Monistengemeinden, die bereits in mehr als 50 Städten besondere Ortsgruppen als Zentralorgane besitzen, zu dem Anspruch, daß auch der Monistenbund als selbständige Religionsgesellschaft anerkannt wird, wie es von der Regierung des Königreiches Sachsen bereits geschehen ist.“

Gegen Ihren vollauf berechtigten und vernünftigen Wunsch glaubten jedoch zwei unserer Mitglieder „Bedenken“ erheben zu sollen (hoffentlich werde ich bald in der Lage sein, ihnen die richtige Anweisung erteilen zu können). Trotz dieses Widerspruches sind die Stimmen, die nach einer monistischen Religion rufen, in unseren Reihen bisher nicht verstummt: wir haben offenbar religiöse und religionslose Mitglieder. Meinerseits kann ich Ihren einsichtsvollen Gedanken mit vollster Überzeugung nur beipflichten. Treffend weisen Sie uns auf diejenigen Aufgaben und Ziele hin, auf die es im Kampfe der Weltanschauungen besonders ankommt, nämlich auf die Ausgestaltung und Befestigung der als gut und heilig anerkannten Anschauungen und Überzeugungen durch die Anhänger und Bekenner einerseits, und auf die Anerkennung ihres Rechtes durch die Gesellschaft, bezw. durch das Volk und den Staat andererseits. Darin besteht ja die Bedeutung einer gesellschaftlichen Weltanschauung, die als soziale Kulturerscheinung das Streben hat, sich immer weiter und weiter zu verbreiten, Volksreligion oder gar Weltreligion zu werden. Unsere kurzsichtigen religionslosen Mitglieder sehen gerade unsere Hauptaufgabe nicht. Wollen wir eine Weltanschauung für eine gelehrte Zunft ausbilden oder für das Volk? Die Gelehrten haben ihre Ansichten und brauchen dafür keine besondere Hilfe. Dagegen das Volk bedarf eines vollwertigen Ersatzes für seine alte Religion, d. h. es sucht eine neue Religion. Was hat unser Bund bisher Positives für das Volk getan? Mit welchem Recht treiben manche Freidenker und Monisten das Volk aus der alten Kirche, bevor sie eine neue, bessere Institution und Organisation ausgebaut haben? Treiben sie nicht oft das Volk zur Religionslosigkeit, bloß damit der Staat ihre Religionslosigkeit als „gleichberechtigt“ anerkennt? Das sind Fragen, auf die wir keine befriedigende Antwort finden! Die „Religion als Privatsache“ oder die Privatreligion einer gelehrten Kaste kann doch nur geringen Kulturwert haben! Übrigens ist nur die Wahl der Religion im modernen Staat Privatsache, während die Religion selbst immer eine soziale Erscheinung bleibt. In diesem Sinne erklärt das „Toleranz-Gesetz“ im modernen Staat Duldsamkeit und Gleichberechtigung für alle anerkannten Religionen. Die Anerkennung bezieht sich doch weniger auf die Vorstellungen als vielmehr auf die Handlungen, mit denen die Religionen immer verbunden sind. Inquisition und Hexenprozesse z. B. wird der „liberalste“ Staat weder anerkennen noch dulden. Die „Toleranz der Konfessions- und Religionslosigkeit“ ist jedenfalls mehr Sache des Staates als unseres Bundes. Unser Bund sollte der Religionslosigkeit keine Vorspanndienste leisten. Denn wir wissen nicht ganz genau, worauf es ankommt. Die Religionswissenschaft belehrt uns, daß „Religion eine heilige und fromme Überzeugung ist, die mit guten Handlungen verbunden ist.“ Danach würde || „Religionslosigkeit die Abwesenheit von heiligen Überzeugungen und guten Handlungen“ bedeuten. In der Tat sind nicht bloß die höheren Religionen ethisch, sondern auch die niedern, freilich vom Standpunkt ihrer Bekenner. Das ist der Grund, warum das Volk immer die Religion mit Frömmigkeit und Sittlichkeit verbindet, dagegen die Religionslosigkeit verabscheut. Daher haßt auch das Volk diejenigen sog. „Freidenker und Monisten“, die ihm sein Heiligtum rauben wollen, ohne genügenden Ersatz zu leisten. Die Sache wäre trostlos, wenn im Spiel keine Mißverständnisse wären. Das größte Mißverständnis und Verhängnis ist doch, daß die alten Religionsstifter ihre „heiligen Überzeugungen als Gebote einer Gottheit“ gedacht hatten, während ein moderner Religionsstifter sie als „Gebote der eigenen Einsicht und des Gewissens“ erklären würde. Daher möchten manche Freidenker und Monisten – gar keine Religion haben. Hier ist die Stelle, wo der DMB. seine höchste Kulturmission hat: Er erklärt die Erkenntnisse und Grundsätze unseres Wissens und Gewissens als unsere heiligen Überzeugungen – das heißt eben unsere wissenschaftliche oder monistische Religion! Diese Religion müßte aber unser Bund erst noch ausbauen – Religion ist zugleich Organisation! – und auf diese Weise wäre der DMB. wirklich dazu berufen, der Menschheit eine hehre, wissenschaftliche ethisch-soziale Religion zu schenken.

Hier läßt sich sehr gut eine Parallele zwischen dem Monismus und Sozialismus durchführen. Beide Weltbetrachtungen sind bekanntlich keine „deutschen Erfindungen“, aber die deutschen Sozialisten haben es verstanden, den Sozialismus theoretisch und praktisch, d. h. wissenschaftlich zu begründen und zu organisieren. Seitdem hat der „wissenschaftliche Sozialismus“ Anklang gefunden nicht bloß bei einem Volke, sondern bei der gesamten Kulturmenschheit. Im Grunde läßt sich aus dem Sozialismus eine echte Religion bilden, wenn ihm nur die fehlenden „theoretischen und ästhetischen Elemente“ beigefügt würden. Diese Ergänzung suchten die Sozialisten früher meist im einseitigen Materialismus gemäß der „marxistischen Geschichtsauffassung“. Gegenwärtig wenden sie sich mit Recht auch dem wissenschaftlichen Monismus zu, denn dieser als „Lehre von der Einheit des Körpers und Geistes“ berücksichtigt sowohl die materiellen wie ideellen Faktoren der Geschichtsentwicklung. Übrigens haben Monismus und Sozialismus sonst auch viele Berührungspunkte und gemeinsame Bestrebungen, sie könnten sich aber noch vielfach ergänzen. Meinungsverschiedenheiten wird es ja immer geben, und ihr friedlicher Wettkampf kann dem geistigen Fortschritt nur förderlich sein. Bei den Sozialisten könnten wir gerade in der Organisation der Weltanschauung vieles lernen: Würden wir unsere Pflichten gegenüber der Menschheit ebenso ernst wie heilig nehmen wie die Sozialisten, wir könnten unseren Monismus in nicht ferner Zukunft zur Volksreligion, ja zur Weltreligion erheben. Während wir aber um Begriffe und Erfahrungen und Worte streiten, beschäftigen sich die Sozialisten mit Anwendungen, Erfahrungen und Taten, kurz mit der lebendigen Wirklichkeit. Aber auch die Theorie vernachlässigen sie nicht. Es ist gewiß erfreulich zu sehen, daß einfache Arbeiter sich nach einer „wissenschaftlichen Welt- und Lebensanschauung“ so heiß sehnen. Ein solches Sehnen merkt man aber jetzt fast überall bei den Kulturmenschen, denn gerade die moderne Schule und das Leben machen die Menschen „freidenkend, kritisch und monistisch.“ Wer glaubt jetzt z. B. an Gespenster und Geister usw.? Leider haben es weder die Freidenker noch die Monisten bisher verstanden, dieser heißen Sehnsucht der modernen Menschen nach einer ernsten Welt- und Lebensanschauung und zwar nach einer echten religiösen Kulturorganisation entgegenzukommen. Die traurige Folge davon ist, daß die heutigen Menschen || entweder den „harten Zopf des Aberglaubens“ mitschleppen müssen oder „ganz religionslos“ sind. Da liegt unsere Pflicht und Schuldigkeit gegenüber dem Volke und der Menschheit, eine heilige Pflicht, die der DMB. bisher leider vernachlässigt hat durch die Schuld einiger einseitiger und kurzsichtiger Prinzipienreiter, deren Eifer im umgekehrten Verhältnis zu ihrer Einsicht und Menschkenntnis steht.

Ich will meine Pflicht gegenüber der armen „erlösungsbedüftigen“ Menschheit, die sich in den Kulturländern oft wirklich nach einer hehren ethischen Kulturreligion sehnt, nicht vernachlässigen: ich will nicht nur gegen die „Religionslosigkeit“ in unserem Bunde ankämpfen, sondern auch, soweit es meine beschränkten Kräfte zulassen, einige Bausteine für eine aufwärtsstrebende wissenschaftliche, ethisch-soziale Kulturreligion beisteuern. Eine „Religionsformel“ habe ich aufgrund der Ergebnisse der neuesten Religionsforschung aufzustellen mich bemüht. Nun möchte ich noch eine wissenschaftliche „Erkenntnis-Bekenntnis-Formel“ zur Diskussion stellen. Für uns Monisten sind nämlich „Erkenntnis, Bekenntnis und Grundsatz“ verwandten Begriffe, denn wir bekennen uns nur zu dem, was wir oder die Wissenschaften als richtig erkannt haben. Daher kann jeder Monist, der zu uns als „Gesinnungsgenosse und Mitkämpfer“ freiwillig kommt, diese Formel, die ja nur unsere gemeinsamen Ideale ausdrückt, mit gutem Gewissen unterzeichnen. Das ist freilich nur als erster Schritt zur Grundlegung einer monistischen oder wissenschaftlichen Religion zu betrachten. Mein Entwurf einer solchen „Erkenntnis-Bekenntnis-Formel“ lautet folgendermaßen:

„Die Religion des Monismus ist meine ernste und heilige Überzeugung; ich glaube an die Einheit von Geist und Welt, an den Fortschritt der Menschheit und der Wissenschaft; ich will mich betätigen für die Ideale des Wahren, Guten und Schönen, für die Denkfreiheit und Rechtsgleichheit, für die gesellschaftliche Rechtsordnung, für den Wohlstand und Frieden der Völker, für den friedlichen Wettbewerb meiner Mitmenschen auf allen Gebieten der Natur und Kultur; für diese hohen Kulturideale bin ich bereit zu kämpfen und Opfer zu bringen.“

(Folgt die Unterschrift des Bekenners.)

Vergleicht man diesen Entwurf mit dem „apostolischen Glaubensbekenntnis“, so wird jeder Einsichtige und Unbefangene zugeben, daß in unserer Welterkenntnis ein gewaltiger Fortschritt zu merken ist. Und doch wollen wir niemand unsere Formel aufzwängen! Wer zu uns kommt und unser Mitkämpfer sein will, muss doch selbstverständlich wissen, welche Pflichten er übernimmt, d. h. welche Aufgaben und Ziele wir uns gestellt haben. Hat er diese Pflichten übernommen, erst dann hat er das Recht, „Mitglied des DMB.“ sich zu nennen. Diese Pflichten sind unsere Religion, sie sind Gewissenspflichten eines jeden Monisten. Damit ist der erste Schritt getan. Soll der Monismus aber eine Volksreligion oder gar Weltreligion werden, so müssen wir dem Volke noch ein echtes Volksbuch bieten, ein Erbauungs- und Belehrungsbuch, das einem Evangelium nicht nachsteht im Sinne der sittlichen Erkenntnis. Daher sollte auch dieses Buch etwa den Namen tragen: „Erkenntnisse und Grundsätze der monistischen Religion.“ Hier soll das Volk in faßlicher und gefälliger, aber kurzer Form das Beste erhalten, was wir zurzeit auf den Gebieten der wissenschaftlichen Welt- und Lebensanschauung als Ideale des Wahren, Guten und Schönen erkannt haben, - und diese Erkenntnisse sollen ihm eben als Begleiter und Wegweiser im Leben dienen. Nur dann kann das Volk zu uns kommen. Zur Mitarbeit an einem solchen „Volksbuch“ müßten wir freilich alle unsere schriftstellerischen Mitglieder einladen: Denker, Forscher, Lehrer, besonders Sittenlehrer und Künstler wie Dichter usw. Die eingelaufenen Arbeiten und Beiträge müßten von einer „Gelehrten-Kommission“ geprüft, gewählt und zusammengestellt werden. Das übrige wird sich schon finden. Selbstverständlich sind spätere Verbesserungen und Neuer-||scheinungen immer vorbehalten. Die Kultur- und Religionsgeschichte haben es ziemlich sicher dargetan, daß der „eigentliche Mensch“ erst mit dem Streben nach Erkenntnis, mit der Religion beginnt und daß mit dem Ende der Religion zugleich die Menschheit aufhört; denn „religionslose Menschen“ habe man selbst unter den „Wilden“ nicht gefunden. Nur skrupellose Mammonisten u. dgl. haben nichts, was Religion heißt. Ich komme daher zu der gestellten Frage zurück: Ist DMB. berufen, eine höhere wissenschaftliche Religion zu begründen, um die Menschheit vorwärts zu bringen? Von ihnen, unser allverehrter Großmeister, erbitte und erwarte ich die erste zustimmende Antwort.

Ihr ergebenster Jünger Jakob Koltan.

Brief Metadaten

ID
29075
Gattung
Offener Brief
Verfasser
Entstehungsort
Entstehungsland aktuell
Deutschland
Datierung
09.01.1919
Sprache
Deutsch
Umfang Seiten
2
Umfang Blätter
2
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 29075
Zitiervorlage
Koltan, Jacob an Haeckel, Ernst; Heidelberg; 09.01.1919; https://haeckel-briefwechsel-projekt.uni-jena.de/de/document/b_29075