Gustav Adolf Krauseneck an Ernst Haeckel, Triest, 19. Dezember 1910

Triest, am 19. December 1910

Hochverehrter Herr Professor!

Die Übersendung des Sandalion mit Ihren freundlichen Worten hat mich wahrhaft erfreut, als Zeichen Ihres mir immer so teuren freundschaftlichen Gedenkens, aber auch weil sie mir den erwünschten Anlaß gibt, Ihnen meine Auffassung des widerlichen Streites, den man Ihnen aufgenöthigt, offen auszusprechen, wozu ich mich nicht eigentlich berechtigt fühlte. Aber hier reden Sie ja nicht zu Leuten vom Fach, sondern zu aller Welt & namentlich zur großen Menge Ihrer Verehrer und zwar als großen Gelehrten & als Mensch, zu denen zu gehören, mir immer ein tiefbeglückendes Gefühl vor.

Ich unterschreibe gewiß nicht alles, was die Welträtsel und die noch wertvolleren Lebenswunder || lehren, sei es als Ergebnisse der Forschung, sei es als Ihre Gedanken, aber bei auseinandergehender Ansicht über Dinge, die beide Teile intressieren und namentlich über solche Fragen, die keiner mit Sicherheit beantworten kann, kann man sehr gut herausblicken. Ihr Lebenswerk, das große stolze Gebäude, an dem sich Tausende Belehrung und Erkenntniß geholt, heruntersetzen wollen, wie es jetzt geschieht, das jedoch ist empörend und ein so schmachvoller Undank, daß eine gewisse Verbitterung bei Ihnen leider nur allzu erklärlich wird. Freilich spielt da sehr viel Neid mit, der ja verständlich wird, wenn man Größe und Gewicht Ihres Namens in der Wissenschaft bedenkt, wie man Ihren Unmut darüber begreifen muß, der Sie bis zum Austritt aus der Kirche trieb, den ich, ganz offen gesagt, bei einem protestantisch getauft gewordenen ebenso wenig notwendig fände, wenn er dem „Glauben“ längst entwachsen ist, wie es mir unfaßlich ist, || daß Katholiken, wenn sie – nicht Ernst Haeckels – sondern auch nur bescheidene und denkende Menschen sind, in Ihrer „Kirche“, dieser fürchterlichen Zwingburg für alles Geistesleben, blühen. Letztere können freilich, wenn sie’s nicht mehr aushalten lutherisch werden und somit bleiben, was doch immer noch einen mächtigen Kulturfaktor ausmacht: Christen.

Einer allzu großen Empfindlichkeit aber schreibe ich es zu, daß Sie sich über die geradezu albernen Betrugs- und Fälschungsanklagen so sehr aufregen. Nicht blos weil Sie Ihren Platz neben Charles Darwin in der Geschichte der Wissenschaft for ever haben, können Ihnen Behauptungen der „Ingolstädter Zeitung“ oder des „Bayerischen Vaterland“ eigentlich ganz gleichgültig sein, sondern weil die wenn auch nicht photographisch exacte Wiedergabe eines Praeparates ebensowenig eine Fälschung ist, wie die durch unvorsichtiges Fahren mit dem Automobil bewirkte Tödtung eines Menschen ein Mord ist. Und doch schreit die Menge, wenn ein solches Malheur passirt: Mörder! Die || Leipziger Decleration der deutschen Professoren ist eine so evidente Verurteilung des Herrn Brass und des Keplerbundes, daß Sie in dieser Hinsicht täglich alles Weitere dem immer noch gesunden Urteil der gebildeten Welt überlassen könnten und – erlauben Sie Ihrem alten Freund den Zusatz – sollten!

Es ist mir immer noch ein großer Schmerz, im Sommer ana Jena vorbeifahren zu sein, ohne Sie gesehen zu haben. Wenn es nach meinem Wunsche geht, so sehe ich Sie im kommenden Jahre gewiß & ich hoffe, mich davon überzeugen zu können, daß Ihnen all der Ärger nicht weiter geschadet haben werde.

Wir sind alle wohlauf; meine Frau und Valentine senden, gleich mir, Ihnen, verehrter Freund, und Ihrer verehrten Frau Gemahlin herzlichste Grüße und beste Wünsche zum Jahreswechsel.

In treuer Verehrung Ihr

Gust. Krauseneck

a eingef.: an

Brief Metadaten

ID
27817
Gattung
Brief ohne Umschlag
Entstehungsort
Entstehungsland aktuell
Italien
Entstehungsland zeitgenössisch
Österreichisch-Ungarische Monarchie
Datierung
19.12.1910
Sprache
Deutsch
Umfang Seiten
4
Umfang Blätter
2
Format
12,7 x 20,2 cm
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 27817
Zitiervorlage
Krauseneck, Gustav Adolf an Haeckel, Ernst; Triest; 19.12.1910; https://haeckel-briefwechsel-projekt.uni-jena.de/de/document/b_27817