Gustav Adolf Krauseneck an Ernst Haeckel, Triest, 31. Dezember 1899

Triest, am 31. Decemb. 1899

Hochverehrter Freund!

Ich kann das alte Jahr nicht verstreichen lassen ohne Ihnen noch einen herzlichen Gruß zu senden. Geht mit dem heutigen Tage, oder erst mit nächstem Sylvester das gute 19te Jahrhundert zu Ende: jedenfalls gibt die neue Zahl Anlaß zu besonderem Sammeln und Überdenken so mancher Zweifel & Sorgen um die Zukunft, aber doch auch zu freudigen Ausblicken in das weitere Werden und Streben der Zeit. Ich bin nun einmal optimistisch angelegt und bin für dieses von meinem unvergesslichen Vater überkommenen Erbstück immer dankbar. Es ist gerade in der Zeit, die wir erlebt haben, Alles so ungeheuer besser geworden, daß mir vorkömmt, man könne alle die Consultionen und scheinbare Rückschritte auf geistigem || und wirthschaftlichem Gebiet, die wir sehen und fühlen, doch nur als Anzeichen allzu rascher Entwicklung ansehen. Wirkliches Zurückgehen aus einmal gewonnenen Positionen gibt es nicht. Und darum vermochte ich mit Ihren Welträthseln nicht immer und überall einverstanden zu sein. Die großen Wahrheiten, deren Mitbegründer Sie für immer sind, stehen fest, das Rätseln daran ist auf dem Gebiete des Wissens & Denkens vollkommen aussichtslos. Daß es trotzdem geschieht bedeutet eigentlich nicht viel mehr, als daß Unberufene an Fragen herantreten, zu deren Beantwortung ihnen sogar die Methode fehlt. Und darum schien mir die neuerliche Rechtfertigung der ganzen Anschauung beinahe jenen zuviel erwiesenen Ehre. Anders freilich ist es mit der von Ihnen gewollten Acceptirung dieser Wahrheiten auf den Gebieten des Lebens, die noch andrer Nahrung bedürfen, als || der rein geistigen. In Schule, Amt, Kirche, in der Familie, Gemeinde, in allen den 1000fältigen Beziehungen der Menschen unter sich und zum Ganzen kann mir eine noch so fundirte Erkenntniß nicht in 50 Jahren so enorme Veränderungen hervorbringen, wie Sie in Ihrer sehr gestrengen Kritik all dieser Institutionen es möchten. Ich bin, soweit ich berechtigt bin darüber zu urtheilen, vollkommen zweifellos über die Richtigkeit Ihrer biologischen Lehrsätze; aber daß darum unser Herrgott vollständig abdanken solle, geht mir absolut nicht ein. Den vielen Millionen Nicht-Gering- und Minderwerthigen, die doch schließlich keine Animalia sind und ihre Momente haben, in denen sie nachdenken, kann man diese altbewährte Formel nicht nehmen. Ich glaube überhaupt nicht und nie; jedenfalls aber nicht mit einer Plötzlichkeit, die ja alle natürliche historische Entwicklung ausschlösse. Mächtige, gerade geistige Prozesse, wie z. B. die Reformation und ihr Gegenstück, die Geschäfte des Katholicismus seit dem 16 Jahrhundert, || oder die französische Revolution, zeigen doch, wie die allmählige und behutsame Entwicklung sich vollendet, überhastetes Bessermachenwollen dagegen in sich zusammenbricht. – Ihre Lebensarbeit, verehrter Freund, ist ja außerordentlich großartig – ich hoffe aber sehr, daß sie durchaus nicht abgeschlossen sei – daß sie noch sehr Vielen und auf lange hinaus den rechten Weg zeigen wird; aber – wie Sie möchten – eine abschließende Neugestaltung einer durchwegs im Fluß stehenden Entwicklung konnte sie nicht bringen. Jedenfalls aber ist Ihr Buch ein so großartiges, daß es Jeder als eine besondre Gunst des Schicksals betrachten muß, der die Möglichkeit hat, Ihnen selbst für den großen Genuß, es gelesen zu haben, danken zu können. Ich thue das in dem Gefühle innigster Dankbarkeit für so viele durch Ihre Schriften empfangene Belehrung & Bereicherung & in dem der steten Freude über meine persönliche Beziehung zu Ihnen, die mir so außerordentlich werthvoll ist, daß es || mir unmöglich schien, meine Bedenken über Ihr Buch in conventionelle Phrasen der Bewunderung zu vermummen. –

An die großen Probleme, die letzten Fragen des Menschengeistes, die Sie erörtern, wage ich mich Ihnen gegenüber ohnedies nicht hinan. – Hierzulande werden die Welträthsel viel gelesen. Ich war eben einige Zeit in Wien & traf so manchen, der sich daran erfreute – oder darüber ärgerte. – Vorher war ich auch in Rom, leider so spät und nicht zur Zeit Ihres dortigen Aufenthaltes. Doch waren das alles geschäftlichen Rücksichten gewidmete Reisen, auf denen man wenig einsammelt.

Zuhause sind wir alle wohlauf und gehen guten Muths in’s neue Jahr. Valentine & ich haben ihres Buches wegen viel Streit gehabt, aber nicht sosehr unter uns, als einerseits mit der doch vielfach gar zu dumm bleibenden Welt, aber || auch mit dem diese Welt gar so schlecht findenden Autor! Unser Schwager, General Riegg, der jetzt die Bocche di Cattaro bewacht, schreibt mir eine ganze Abhandlung über Ihr Buch & in Wien fand ich in einem Salon sehr hübsche Damen in lebhaften Debatten darüber. Sie können sich vorstellen, welchen Nutzen ich von meiner Freundschaft mit dem „berühmten“ oder „entsetzlichen“ Häckel ich hatte!

Vom ganzen Haus & meiner Frau besonders alles Herzlichste Ihnen & den verehrten Ihrigen & da auch 1899 verstrich ohne Ihnen die längst schuldige Gegenvisite in Jena zu machena, so hoffe ich für’s kommende Saeculum auf baldigstes Wiedersehen.

In treuer Verehrung Ihr ergebener

G. Krauseneck

a eingef.: zu machen

Brief Metadaten

ID
27800
Gattung
Brief ohne Umschlag
Entstehungsort
Entstehungsland aktuell
Italien
Entstehungsland zeitgenössisch
Österreichisch-Ungarische Monarchie
Datierung
31.12.1899
Sprache
Deutsch
Umfang Seiten
6
Umfang Blätter
3
Format
12,8 x 20,3 cm
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 27800
Zitiervorlage
Krauseneck, Gustav Adolf an Haeckel, Ernst; Triest; 31.12.1899; https://haeckel-briefwechsel-projekt.uni-jena.de/de/document/b_27800