Gustav Adolf Krauseneck an Ernst Haeckel, Triest, 24. Dezember 1896

Triest, am 24. Decemb. 1896

Verehrter Herr Professor!

Ich habe recht lange nichts von Ihnen gehört und lange von uns nichts hören lassen. Sie wissen aber, wie unendlich werthvoll mir Ihre Freundschaft ist und lassen Sie mich daher Ihnen und Ihrer verehrten Frau Gemahlin doch einen Gruß von uns senden mit unseren herzlichsten Weihnachts- und Neujahrswünschen. Ich hoffe, daß wir Sie damit in froher und behaglicher Stimmung treffen und daß Sie sich von Ihrem vorjährigen Leide völlig erholen gekonnt. – Ich sehe zu meiner großen Freude daß Ihre Systematische Phylogenie nun ganz erschienen ist und daß Sie somit wieder in kurzer Zeit diese riesige Arbeit vollenden konnten. || Denken Sie zur Erholung & Kräftigung nicht an eine Reise nach dem Süden, die Sie dann auch in oder nahe an unsere Region bringen würde?

Bei uns sieht es sehr traurig und trübe aus. Mein armer Vater ist seit 8 Monaten des Gebrauchs der Beine völlig beraubt und nun auch geistig ganz schwach, ein eben noch lebender hülfloser Körper der kaum mehr an den früheren Menschen erinnert. Ohne schweres Leiden gibt ihm seine von Haus aus gute Constitution eine Widerstandskraft, die wir Alle eigentlich nur bedauern können, da für ihn & seine Umgebung jeder Genuß, jede Freude unwiderbringlich dahin ist. Der einzige Trost ist, daß er davon gar nichts weiß. || In solchen Tagen lernt man wohl unser Leben von seiner traurigsten Seite kennen mit seinen crassesten Nichtvollkommenheiten, & es erfordert alle Selbstbeherrschung, sich davon in seinen idealen Überzeugungen nicht anfechten zu lassen. – Doch ich mag Ihnen nicht mit so wenig Erfreulichem kommen, da Sie vielleicht eben in Ihrem schönen Kreise sich einige Tage der Ruhe gönnen. –

Im Sommer waren wir – meine Frau, Valentine & ich – in Tirol und ich bin viel in den Dolomiten herumgelaufen. Mein Schwiegervater geht nächster Tage wieder nach Aegypten und ist recht wohl. Sehr gerne wäre ich mit gegangen, doch leider ist aller praktische Beruf meiner mehr oder weniger einer Kettenhundexistenz. Vielfach ist die Thätigkeit nicht viel geistreicher || als das Nagen an einem Knochen, jeder Knochen ist aber irgend einem dummen Kerl die Hauptsache im Leben und darum muß man ihm nagen helfen & auf die freie Bewegung verzichten. – Aber bevor da unten Alles drunter und drüber geht und vielleicht auf die türkische die russische und englische Barbarei folgt, sollte man doch auch da noch etwas kennen lernen. –

Somit, hochverehrter Freund, lassen Sie sich mit allen dankbarst innigen Wünschen für Ihr – mir so unendlich kostbares – Wohl umarmen und nehmen Sie die herzlichsten Grüße auch von meiner Frau & dem ganzen Hause entgegen.

Ihr immer treu ergebener

Gust. Krauseneck

Brief Metadaten

ID
27794
Gattung
Brief ohne Umschlag
Entstehungsort
Entstehungsland aktuell
Italien
Entstehungsland zeitgenössisch
Österreichisch-Ungarische Monarchie
Datierung
24.12.1896
Sprache
Deutsch
Umfang Seiten
4
Umfang Blätter
2
Format
12,8 x 20,7 cm
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 27794
Zitiervorlage
Krauseneck, Gustav Adolf an Haeckel, Ernst; Triest; 24.12.1896; https://haeckel-briefwechsel-projekt.uni-jena.de/de/document/b_27794