Otto Lehmann an Ernst Haeckel, Karlsruhe, 10. November 1910
Prof. Dr. OTTO LEHMANN
techn. Hochschule
KARLSRUHE
Karlsruhe 10.XI. 1910
Sr. Exzellenz Herrn Geheimrat E. Haeckel, Jena.
Hochgeehrter Herr College!
In Ergänzung meines eben abgesandten Briefes möchte ich zur Vermeidung von Mißverständnissen noch folgendes bemerken.
Wenn ich den charakteristischen Unterschied belebter Materie von unbelebter Materie darin sehe, daß bei ersterer Verbindungen zwischen den Atomseelen bestehen, so schließt dies
Uebergänge zwischen anorganisch und organisch in Ihrem Sinne nicht aus, denn die
Verbindungen können verschieden abgestufte Stärke haben, ähnlich wie es ja auch
Kolonien von Lebewesen, Polypen, Infusorien, Bakterien u. s. w. gibt, bei welchen die
Verbindung der einzelnen Individuen eine sehr lose ist, so daß Zweifel darüber entstehen
können, ob das Aggregat als ein Lebewesen oder als eine Anhäufung vieler zu bezeichnen
ist. Wenn deßhalb meine scheinbar lebenden Kristalle von Ihnen als einheitliche Lebewesen
bezeichnet werden, so kann ich das nicht widerlegen, denn ich müßte beweisen, daß keine
Verbindungen zwischen deren Atomseelen bestehen. Die Aehnlichkeit mancher Vorgänge mit
denen bei Lebewesen spricht aber geradezu für das Vorhandensein solcher Verbindungen,
jedenfalls ist der Beweis des Fehlens nicht möglich. ||
Vielleicht handelt es sich um eine sehr primitive Art von Verbindungen ähnlich wie man bei chemischen Verbindungen auch sehr lockere neben sehr festen vorfindet. Es wäre auch
denkbar, daß für solche lockere Verbindungen der Satz von der Irreversibilität der
Lebensvorgänge nicht gilt, so daß thatsächlich das Individuum aus seinen Zerfallsprodukten
ohne Beiziehung eines Keimes oder eines Organismus wiederhergestellt werden kann.
Von vornherein kann man darüber nichts bestimmtes aussagen, es kommt alles darauf an,
welche Ergebnisse die Versuche liefern; ob es wirklich möglich ist, aus anorganischen
Stoffen künstlich Gebilde herzustellen, die sich in ihren Eigenschaften den Lebewesen
nähern. Bezüglich der gestaltenden und bewegenden Kräfte glaube ich bei den scheinbar
lebenden Kristallen solche Aehnlichkeit erreicht zu haben. Vielleicht wird man noch größere
Aehnlichkeit erzielen können, wenn es gelingt, eiweißartige flüssige Kristalle herzustellen,
was wohl nur eine Frage der Zeit ist. Es mag sein, daß dann auch Erscheinungen deutlicher
hervortreten, aus welchen man auf eine Verbindung der Atomseelen schließen kann, so daß
die Kristalle auch nach meiner Definition als wirklich lebend bezeichnet werden könnten. Ich
möchte aber erst das Ergebniß abwarten, ehe ich mich || darüber äußere. Daß ich es nicht
mehr erlebe, ist allerdings möglich, zumal da der Krieg die Arbeiten nicht begünstigt und
eine Fliegerbombe, wie sie in Karlsruhe manchmal fallen, die Arbeit mit einem Schlage
beendigen kann. Beim ersten Fliegerbesuch fielen drei Bomben in meiner Nähe und es ist
eigentlich ein Wunder, daß ich ohne Schaden davon gekommen bin.
Eine Sache, die mir weiter viel Kopfzerbrechen macht, ist die Art und Weise, wie man sich Kraftfelder als beseelt vorzustellen hat. Ich schreibe augenblicklich auf Wunsch des
Professors der Philosophie in Halle a. d. S. Herrn Geheimrat Vaihinger an einer Abhandlung
für die Zeitschrift „Philosophie des „Als ob““, welche sich im Grunde mit dieser Frage befaßt.
Dazu müßte man aber eine schärfere Definition der grundlegenden Begriffe, Masse, Kraft,
Trägheit, Schwere, elektromagnetisches Kraftfeld, Elektron u. s. w. haben, als sie zur Zeit
besteht. Fast möchte man sagen, daß zur Zeit in der Physik ein völliges Chaos in dieser
Hinsicht vorhanden ist; immer begegnet man bei den allereinfachsten Sätzen den größten
Schwierigkeiten, wie wenn der Mensch überhaupt außer Stande wäre, die Naturvorgänge zu
begreifen.
Schon als kleiner Junge hatte ich in dieser Hinsicht immer Bedenken, denn ich versuchte
vergebens zu erfassen, || wie man sich eigentlich die Welt denken soll. Ist nicht vielleicht
unsere ganze Sternenwelt nur ein Atom einer viel größeren Welt, diese wieder ein Atom
einer noch größeren u. s. w. Sind nicht unsere Atome vielleicht ungeheuer komplicierte
Welten, die aus Atomen bestehen, welche in Wirklichkeit noch kleinere Welten sind und so
in infinitum. Wie soll man über die Kräfte solcher Atome, deren Struktur man niemals
erforschen kann, weil man endlos zu immer noch kleineren kommt, etwas bestimmtes
aussagen können? Kommt wirklich den physikalischen Begriffen eine reale Bedeutung zu,
handelt es sich dabei nicht um Phantasiegebilde um Fiktionen, wie es auch die Philosophie
des „Als ob“ annimmt?
Wenn Atome aus Kraftfeldern bestehen, wo ist die Grenze dieser Kraftfelder? Ein solches
Kraftfeld kann nicht im Gleichgewicht bestehen, nachdem es entstanden ist, es muß sich
beständig mit Lichtgeschwindigkeit in den unendlichen Raum ausbreiten. Die Atome sind
also keine stationären Gebilde, sondern in beständigem Wandel begriffen, sie können sich
auch nicht zurückbilden, denn die sich ausdehnenden Kraftfelder können sich nicht von
selbst wieder zusammenziehen, es sind irreversible Vorgänge ähnlich wie das Absterben der
Lebewesen. Was einmal bei diesen philosophischen Betrachtungen herauskommen wird, vermag ich nicht zu ahnen.
In größter Verehrung und Dankbarkeit Ihr ergebenster
O. Lehmann