Gude, Karl

Karl Gude an Ernst Haeckel, Magdeburg, 30. März 1892

Magdeburg, den 30 März 92.

Mein lieber, alter Freund!

Herzlichen Dank für Deine freundliche Sendung, die mich schon deshalb beglückt hat, da sie zugleich ein Zeichen ist, daß Du meiner noch immer in alter Liebe gedenkst. Inzwischen ist das famose Volksschulgesetz zurückgezogen, ein Machwerk, welchem der Dilettantismus für alle Zeiten auf der Stirn stehen bleibt. Zur Entschuldigung kann man vielleicht jetzta sagen, daß seine Tragweite nicht erkannt worden ist. Das kommt davon, wenn man alles zu verstehen glaubt. Es hat wohl bis jetzt noch keine Gesetzesvorlage eine so tief gehende Aufregung hervorgerufen, als dieses Volksschulgesetz von Herrn Zedlitz. Sicherlich wird es bei den nächsten Wahlen nicht in Vergessenheit geraten sein und seine Wirkung den Conservativen b || bei der Stimmenabgabe fühlbar werden lassen, dem Centrum wohl weniger, denn dieses besitzt in seinen schwarzen Soldaten eine Disciplin, vor der man Respect haben könnte, wenn sie einem besseren Zwecke diente. Erfreulich ist, daß fast sämtliche Universitäten und größern Städte sich wie ein Mann erhoben haben. Das hat sicherlich stutzig gemacht. Geschwiegen haben die Herren Prediger! Und doch wäre die Annahme des Gesetzes für sie wahrscheinlich noch verderblicher gewesen, als für die Lehrer. Die Conflicte, in denen sie mit den Lehrern u. den Gemeinden geraten wären, hätten nicht aufgehört und zwar zu ihrem Nachteil.

Was nun meine Wenigkeit betrifft, so habe ich mein seit vielen Jahren bestehendes Programm Tag für Tag pünktlich einhalten können, obschon ich bereits ins 79ste Lebensalter getreten bin. Es beginnt mit einem gegenseitigen Hinauswerfen. Um || 6 Uhr morgens setzt mich nämlich meine Aufwartung regelmäßig an die Luft und um ½10 Uhr mache ich es mit ihr ebenso, wenn sie mit dem Aufräumen meiner liederlichen Stube noch nicht fertig sein sollte, was indes glücklicher Weise selten der Fall ist. Die übrige Zeit des Tages wechselt mit dem Spazierengehen, mit dem Arbeiten u.s.w. ebenfalls nach der Uhr pünktlich ab, so daß mich eine der Damen, bei der ich des Sonnabends in Gesellschaft anderer regelmäßig Kaffee trinke, „die wandelnde Glocke“ getauft hat, indem ich um 4 Uhr nicht mehr zu halten bin, trotz der mir so angenehmen Gesellschaft. Gegenwärtig sitze ich wieder in der Durchsicht von Korrekturbogen, bei der mir der Damenkreis, frühere Schülerinnen, stets behülflich ist. Sie machen ihre Sache vorzüglich. Ich sehe den Bogen nur einmal durch u. schone auf diese Weise meine || Augen, die anfangen, schwach zu werden, wie denn überhaupt das Alter sich mehr und mehr geltend macht, nicht nur in dem unüberwindlichen Festhalten am Gewohnten. Mitunter wird mirs recht weh ums Herz, denn man vereinsamt c immer mehr, je älter man wird. Im Januar dieses Jahres ist d mein alter früherer Rector und Freund im 81sten Jahre verstorben; von dem alten Stamm der Schule bin ich allein noch übrig. Mein Schwager in Wernigerode ist auch nicht mehr, meine Schwester hat das schöne Grundstück verkauft und ist nach Potsdam zu ihrer Tochter gezogen; mein Vetter in Elend, der Revierförster, ist nach Lüderholz versetzt worden, und so verliert man ein lieb gewordenes Heim nach dem andern, und einen Freund nach dem anderen. Glücklicher Weise habe ich noch Genuß am Arbeiten, und als langjähriger Lehrer wird mir auf meinen Spaziergängen auch manch‘ freundliches Wort u. manch‘ freundlicher Blick früherer Schülerinnen zu teil. Bei den Kaffee-Damen wird nächstens Deine Sendung vorgelesen. In alter Liebe u. mit herzl. Gruß an die Deinen

K. Gude

a eingefügt: jetzt; b gestr.: fühlbar; c gestr.: ich; d gestr.: auch

 

Briefdaten

Verfasser
Empfänger
Datierung
30.03.1892
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 266
ID
266