Karl Gude an Ernst Haeckel, Magdeburg, 8. November 1890

Magdeburg, den 8 Novb. 90

Mein lieber, alter Freund!

Herzlichen Dank für die freundliche Sendung, welche mir eine große Freude bereitet hat, schon dadurch, daß sie abermals ein Zeugnis ablegt, daß Du meiner noch immer in alter Liebe gedenkst. Sie ist wie alle Deine Reiseberichte mit wohlthuender Lebendigkeit u. ungewöhnlicher Anschaulichkeit abgefaßt u. wird um so mehr Anklang finden, da sie wiederum Schilderungen von Gegenden bringt, welche nicht an der großen Heerstraße des reisenden Publikums liegen. Es ist doch merkwürdig, daß Afrika, obgleich schon in den ältesten Zeiten in seinem Nordrande bekannt, immer noch der dunkelste Erdteil ist. Deine Reise hätte Dir ja beinahe den Tod durch Erschießen gebracht. Die Furcht der französischen Verwaltung vor Spionen gereicht ihr nicht zur Ehre, ja sie ist, wie aus Deiner Erzählung hervorgeht, geradezu lächerlich, nicht minder ist es die Forderung, daß wir Elsaß-Lothringen wieder herausgeben sollen. Selbst wenn dieses geschähe, würde die Eitelkeit der Franzosen die erhaltene Niederlage auswetzen wollen. Schrien sie doch bei dem Ausbruch des Krieges 1870: „Rache für Sadowa“. ||

Im vergangenen Jahre, ich glaube es war Ende Mai, erhielt ich von Dir ebenfalls eine Zusendung, einen Artikel über die Brunofeier, wofür ich Dir noch nachträglich meinen Dank ausspreche. Das Schriftchen war nach Magdeburg adressiert u. ist mir nach Elend nachgeschickt worden, woselbst ich nach meiner Pensionirung, also schon 7 Jahre, bei meinem Vetter, dem Revierförster Spellerberg, die Sommermonate zugebracht habe. Elend hat nur 10 Häuser, ist aber so von Tannenwäldern umgeben, daß dieselben gleichsam in die Stube kommen. Ich habe durch meinen wiederholten Aufenthalt in Elend die Tanne so lieb gewonnen wie einen Freund; nicht wenig, ja das meiste hat dazu auch die wohlthuende Häuslichkeit bei meinem Vetter beigetragen. Leider ist derselbe nach Lüderholz, einer einsam im Walde gelegenen Oberförsterei bei Herzberg, versetzt worden, was mich bewogen hat, in dem verflossenen Sommer einen Aufenthalt in seiner Nähe zu nehmen, denn Monate lang in der Waldeinsamkeit zuzubringen, ist mir nicht möglich; dazu bin ich nicht Romantiker genug. In Elend war stetsa ein reger Fremdenverkehr, das herrliche Thal nach Schierke b in den Sommermonaten von Brockenbesuchern fortwährend belebt, und Schierke selbst mir ein angenehmer Ort geworden.

Ich habe daselbst Jahre hindurch den Schnarchern || gegenüber auf der Terrasse des Gasthofes den Nachmittags-Kaffee eingenommen und mich an den wandernden Brockenbesuchern ergötzt, die in der frohesten Laune auch beim Regenwetter zu Scherz und Gesprächen aufgelegt waren, die Damen nicht ausgenommen; nur mit dem fahrenden Publikum, das sich im Omnibus eingefercht zum Vater Brocken heraufschleppen ließ, habe ich mich nicht eingelassen. Wie Lebensmüde kamen sie aus dem Kasten herausgekrochen, schlürften still eine Tasse Kaffee oder tranken ein Glas Bier und setzten sich dann wieder still in das Gefährt. Es lebe das Wandern!!

Nicht allzuweit von der Oberförsterei Lüderholz liegt die ein Teil von Herzberg bildende Lonauer-Hammerhütte, aus 6 bis 8 Häusern bestehend. Hier habe ich diesen Sommer 7 Wochen hindurch bei einem Förster gewohnt, ab u. zu die Meinigen besucht u. mit ihnen auch kleine Partien unternommen, namentlich nach Lonau und Lauterberg und den Wiesenbecker-Teichen, die eine Perle des Harzes sind. Von meiner Wohnung aus konnt ich in wenigen Minuten in das herrliche Sieberthal gelangen, welches sich bis nach St. Andreasberg zieht, und in ebenso kurzer Zeit nach dem nicht minder schönen Lonauthale. Der Harz hat hier einen ganz anderen Charakter als um den Brocken herum. || Die Thäler sind nicht von langgezogenen Bergrücken eingeschlossen, sondern von enganeinader gerückten Kegelbergen, die steil aufsteigen und von oben bis unten mit einem üppigen Waldwuchse bedeckt sind, wie ich ihn weder in den übrigen Teilen des Harzes noch auf meinen sonstigen Gebirgsreisen gefunden habe. Vorherrschend ist die Buche u. das undurchdringliche Buchengebüsch. Die Tanne ist seltener. Leider konnte ich die steil aufsteigenden Höhen, welche herrliche Aussichtspunkte bieten, nicht aufsuchen. Wenn man im 77sten Jahre steht, sieht man sich die Berge von unten an. Den Rest der Sommerfrische habe ich bis in den Sept. hinein in Wernigerode bei meiner Schwester verlebt, deren Mann leider im August gestorben ist. Man vereinsamt immer mehr, je älter man wird. Ich komme mir manchmal vor, als ob ich auf einem großen Friedhofe wandelte. Von dem alten Stamm der Kollegen an unserer Schule c ist außer mir nur noch der Rektor vorhanden, der einige Jahre älter d ist, als ich, aber einen traurigen Lebensabend verbringt, da e er bereits zweimal || einen Schlaganfall gehabt hat, so daß er die Stube fast gar nicht verlassen und nur mit Anstrengung sprechen kann, er, der früher der gewandteste und schlagfertigste Redner war. Gott sei Dank, kann ich täglich noch 3 Stunden spazieren gehen und, was sehr viel wert ist, auch noch arbeiten und zwar mit einem bestimmten Zwecke. Meine „Erläuterungen deutscher Dichtungen“ erscheinen trotz der starken Concurrenz immer noch in neuen Auflagen, jede 3000 Ex. stark, und da man nicht auslernt, würde man auch noch so alt, so habe ich fortwährend durch Verbesserungen und Vermehrungen zu thun. In der Arbeit steckt der größte Genuß, der auch am längsten vorhält. Bei den Korrekturbogen ist mir eine frühere Schülerin und Kollegin behilflich, welche in diesem Sommer eine Reise nach dem Nordcap mitgemacht hat und in der gehobensten Stimmung, die noch vorhält, wiederkam. Eine zweite frühere Schülerin hat die Alpen und Oberitalien durchstreift. Wir drei finden uns regelmäßig jeden Sonnabend des Nachmittags bei einer Tasse Kaffee zusammen, und da wird Deiner auch oft gedacht, || und auch heute wird das geschehen, indem ich f versprochen habe, Deine algerischen Erinnerungen zum Lesen ihneng einzuhändigen. Könnten wir doch im Kaiserhof h auch einmal wieder i gemütlich beisammen sitzen? Wüßte ich es vorher, ich würde die beiden Damen dazu einladen. Sie würden sich sehr freuen. Neue Arbeiten unternehme ich nicht mehr. Lieb wäre es mir, wenn ich von den „Erläuterungen der Gleichnisreden u. der Bergpredigt Jesu“ noch eine Auflage erlebte. Diese Predigten der Bibelj entfalten die höchsten und schwersten dochk in der sittlichen Natur der Menschen begründeten Forderungen, die ewig das Ideal des Strebens sein und bleiben werden. Christus verdient schon deshalb unsere Verehrung, daß er an die Hoheit der menschlichen Natur geglaubt, dafürl gestritten und gelitten hat. Wenn doch die Theologie endlich einsehen wollte, daß nicht in dem Dogma und in dem Glauben an die Wunder (was seiner Zeit beides notwendig war, wenn das Christentum sich durchsetzen sollte) der Schwerpunkt liegt, sondern in dem sittlichen Gehalte desselben. Je mehr das erste betont wird, desto größer ist die Gefahr, daß m die Ungebildeten alles über Bord werfen und daran tragen die Heißsporne der Dogmen-Theologen die Schuld.

Nun noch die herzl. Grüße an Dich u. die Deinigen.

In alter Liebe

Dein

K. Gude.

ps. Vor einigen Tagen brachte unsere Zeitung die Dir zu teil gewordenen Ehrenbezeichnungen, was mich recht gefreut hat.

a eingefügt: stets; b gestr.: war; c gestr.: sind; d gestr.: als; e gestr.: ihn; eingefügt: er; f gestr.: ihnen; g eingefügt: ihnen; h gestr.: auch; i eingefügt: beim Mittagstisch; j gestr.: Sie; eingefügt: Diese Predigten der Bibel; k eingefügt: doch; l eingefügt: dafür; m gestr.: von

Brief Metadaten

ID
265
Gattung
Brief ohne Umschlag
Entstehungsort
Entstehungsland aktuell
Deutschland
Entstehungsland zeitgenössisch
Deutsches Reich
Datierung
08.11.1890
Sprache
Deutsch
Umfang Seiten
6
Umfang Blätter
3
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 265
Zitiervorlage
Gude, Karl an Haeckel, Ernst; Magdeburg; 08.11.1890; https://haeckel-briefwechsel-projekt.uni-jena.de/de/document/b_265