Eduard von Martens an Ernst Haeckel, Chinesische See, 26. April 1861

Chinesische See

26. April 1861.

Lieber Freund!

Deinen lieben langen Brief vom 1. Februar dieses Jahres habe ich in Honkong erhalten und mich sehr darüber gefreut, vor Allem auch über Dein Wohlergehen und die guten Aussichten für Dich; vielleicht finde ich Dich gar schon als außerordentlich(berühmt)en Professor und glücklichen Ehemann in a Jene, wenn wir einmal von unser Farth [!] zurückkommen. Offiziere u. Mannschaft sehnen sich herzlich nach der Rückkehr, ich würde gerne noch lange mich in der Fremde umhertreiben, obgleich viele Illusionen geschwunden sind. Es ist ein eigenthümlicher Zustand, der, soviele Schattenseiten er hat, doch mir in einiger Hinsicht zusagt, oder in den ich mich wenigstens mit mehr Ergebenheit oder Gleichgültigkeit, als ich glaubte, finden kann; wir sind aller Pläne u. Projekte für die Zukunft überhoben, leben nur für den Augenblick. Auf See vertreibt von sich die Zeit, wie man kann, denn man kann ja fast Nichts thun, u. hat nur die Aufgabe, den physischen Menschen bis zum || Lande in so gutem Zustand als möglich zu erhalten; man rechnet kaum noch, in wieviel Tagen der Hafen erreicht sein kann, denn alle solche Rechnungen haben sich gar zu oft nach beiden Seiten hin falsch erwiesen. Endlich heißt es, morgen werden wir zu Anker kommen, man steht früher als sonst auf, betrachtet denb dunklen grünen Streif Land am Horizont, der immer näher rückt, zeigt jedes mit dem Fernrohr sichtbare Haus oder Gebüsch als neue Entdeckung seinen Nachbarn; ein Lootsenkutter kommt uns unterdessen entgegen, ein chinesischer zopftragender Seemann klettert gewandt c über Bord zu uns, u. ertheilt nun in seinem verdrehten Englisch dem Kapitän u. den Offizieren den nöthigen Rath. Immer näher schwimmt von ferne, schon umschwärmt von kleinen Booten, mit Wäscherinnen, Viktualienlieferanten etc, die ihre papiernen Empfehlungen hochempor halten. „Klar beim Buckbord-Anker“ tönt es jetzt, dazwischen das eintönige Ausrufen der Tiefe durch den lothenden Matrosen „gerade sieben“, „halb über sechs“ nämlich Faden, plötzlich: „laß fallen Anker“ u. die Kette rasselt über den Boden der Batterie, jedem auch noch so Unaufmerksamen verkündend, daß man angekommen. || Nun entsteht die große Frage: geht man gleich an Land, oder wartet man bis morgen frühe, d u. packt vorher zusammen, um gleich alle Nöthige mitzunehmen u. dort zu wohnen; wann fährt ein Schiffsboot?, was zahlt man für ein chinesisches Boot! wer hat chinesisches Kleingeld? was gilt der Schilling oder Dollar hier u.s.f. u.s.f. Das Resultat ist in der Regel, daß Einzelne ein chinesisches Boot heranwinken, in Gesellschaften von zwei oder drei von Bord verschwinden, man sich gegenseitig unerwartet in einer Hauptstraße, e einem Laden oder Wirthshause wieder findet, und die Passagiere, auch „Badegäste“ genannt, an Land Wohnungen beziehen, die Offiziere spät in der Nacht an Bord zurückkehren. Die Kaufleute besuchen die ihnen empfohlenen Häuser, die Naturforscher rennen u. kletternf in der Umgebung umher, u. kommen todtmüde nach Haus, lernen den und den Landsmann kennen, der ihnen sagt: da und da müssen Sie nothwendig hingehen, sehen allerhand hübsche Sächelchen, die dieser oder jener gekauft haben, u. die sie natürlich auch haben wollen, gehen daher den nächsten Tag in die Läden u. finden auf der Straße ein paar schöne große Fische || für deren Mitnehmen man vollständig unvorbereitet ist, und doch müssen sie mit, denn

Was Du von der Minute ausgeschlagen,

Bringt keine Ewigkeit zurück.

Kommt man einmal mit vollen Händen an Bord oder nach Haus zurück, u. will nun das Zusammengeraffte auch ordentlich ansehen und präpariren, so findet man natürlich eine Einladung zu g einer gemeinschaftlichen Parthie nach diesen oder jenen Hügeln, von landeskundigen Ansäßigen geleitet u. vorgeschlagen. Das mag man da auch nicht versäumen, verläßt etwas widerstrebend u. verdrießlich seine Arbeit, die Materialien dem Allesconservator Spiritus anvertrauend, um nicht bei der Rückkehr von Klagen über Gestank empfangen zu werden, wird aber bald durch die Gesellschaft u. die Neuheit der Gegend aufgeheitert, findet auch hie u. da etwas, u. fühlt sich am Ende sehr befriedigt u. vergnügt mit der Parthie. Man knüpft Reisebekanntschaften, die goldene Berge versprechen werden, wozu sie uns verhelfen können, orientirt sich in der Umgegend, h erhebt sich allmälig zu Plänen, wie man die Zeit am besten verwerthen, sein Studium am besten betreiben könne, da heißt es plötzlich; übermorgen || frühe segeln wir ab, morgen Abend muß Alles an Bord sein.“ Da stürzen denn ein paar Dutzend Luftschlösser zusammen, man thut noch, was das Nothwendigste oder vielleicht nur das Sicherste u. am schnellsten zu Beendigende scheint, schließt wehmüthig ab, i packt mit j der unvermeidlichen Eile Allesk zusammen u. schleppt es an Bord, um dort zu erfahren, was man eigentlich schon vorher ahnen konnte, daß nur offiziell morgen, in Wirklichkeit übermorgen die Abfahrt Statt finde. Und nicht viel besser ist es, wenn manl von Anfang an mit Urlaub auf nur Einen Tag weggeht, u. derm Aufenthalt sich dann doch von Tag zu Tag hinauszieht. Da geht man dann immer wieder an den bekanntgewordenen Plätzen vorbei, stets denkend, dieses ist das letztemal, verbringt den letzten Abend im Kreise liebgewordener n Landsleute, mit denen zu wenig verkehrt zu haben man sich jetzt vorwirft, oder streift in Ermanglung solcher noch einmal am Meeresstrande oder auf den die Umgegend beherrschenden Hügeln umher, o

„Und ist es schon morgen, so wollen wir heut

„Noch schlürfen Die Neige der köstlichen Zeit.

oder derber „Morgen hängen wir am Galgen, darum laßt uns heute lustig sein“. Denn wenn wir am nächsten Morgen in unserer Hängematte erwacht sind durch den taktmäßigen Schritt der Matrosen, die unter Trommel- und Pfeifenklang den Anker aufwinden, so hat wieder || die Zeit der äußeren u. inneren Beschränkung, des Zwiebacks und der verschiedenen Salzfischragouts begonnen, in deren barbarische Finsterniß nur noch auf einen oder zwei Tage ein schmales Dämmerlicht gebracht wird durch ein paar mitgenommene frische Brode u. Bananen, das Durchmustern der an Land gesammelten Muscheln u. die Erzählungen einiger Offiziere von an Land erlebten Abenteuern der Art, wie sie einen so unschuldigen Menschen wie ich bin, nie passiren können. Das ist im Allgemeinen unsere Geschichte, seitdem wir am 31. Januar die Bai von Jedo verlassen haben u. zuerst Nangasaki, dann Woosung und Shanghai, endlich Hongkong, Kanton u. Makao besucht haben; in letzterem besuchte ich natürlich den schönen schattigen Garten mit dem Denkmal des Sängers der Lusiade, Camõens, der mir doppelt wohl gefiel, da sonst die sonnige Stadt mit ihren hellen hohen Steinhäusern, auf- u. absteigenden Straßen und den kahlen Granithügeln der Umgebung bei einem Sonnenstande von 83° Grad bei aller Berücksichtigung ihres historischen Interesses doch etwas ermüdet. Wir haben nämlich das eigene Geschick, nachdem wir p zur Zeit der Aequinoctialstürme durch die spanische See, im Winter um das Cap gefahren u. einen zweiten Winter || in Japan durchgemacht, um zur erbarmungslosest heißen Jahreszeit die Tropen zu besuchen, u. q ich hoffe, wie bis jetzt gesund zu bleiben, werde mich aber doch etwas vorsichtig benehmen müssen, denn die jämmerliche Abspannung u. Ermattung, die mich in den letzten Tagen, seitdem wir Makao verlassen, befallen hat, u. wohl auch in diesem Briefe sichtbar ist, gefällt mir nicht recht; ich hoffe übrigens , sie rührt nur von der raschen Zunahme der Wärme her.

Von Carl Semper habe ich einen freundlichen Brief aus Manila erhalten, mit der Einladung ihn auf einer Reise durch den Norden von Luzon auf 1½–2 Jahre zu begleiten; ich kann ihr aber nicht folgen, da wir jetzt erst zwei Monate nach seiner Abreise von Manila dorthin kommen werde u. ich, wenn ich mir ein Land wählen darf, gerade nicht die Philippinen wählen würde, denn r Schnecken u. Muscheln der alte Cuming schon so massenhaft gesammelt hat; wir haben Hoffnung nach Manila auch Celebes u. die Molukken zu besuchen, worauf ich mich sehr freue, trotz aller Hitze; es werden diejenigen Punkte unserer Reise sein, wo noch am wenigsten gesammelt worden ist. Von meinen wissenschaftlichen Resultaten kann ich noch nicht viel sagen, ich habe s, wenn ich zurückblicke, manche Schnecke u. manchen Fisch || gesammelt, sehr viele neuet Namen wird es aber wohl nicht geben, da die letzten amerikanischen u. englischen Expeditionen doch auch manches gesammelt haben müssen, das unterdessen beschrieben wird. Mir genügt es, daß ich viel in der Natur gesehen, was ich sonst nur in Museen sehen konnte, aber meine Aussender u. das Publikum dürften wohl nicht damit zufrieden sein. Das Sammeln aus Pflicht wird übrigens auch zuweilen drückend, wie alles von Außen Gebotene, wenn es nicht gleichzeitig einen Widerhall im Inneren findet.

Glaskorallen habe ich leider auch keine lebende u gesehen, aber bin ich an relativ frischen zu demselben Hauptresultate gekommen, wie Prof. M Schultze, den ich freundlichst zu grüßen bitte, nämlich daß die Glasfäden zur unteren schwammartigen Masse und nicht zum polypentragende Überzug gehören.

Daß Du glücklich noch vor dem Ausbruch der Revolution Sicilien verlassen hast, freute mich, zunächst für Deine lieben Eltern u. liebe Braut, die ich bestens zu grüßen bitte, erst in zweiter Linie für Dich selbst, denn so sehr, selbst nach leisen Andeutungen in englischen Zeitungen, die Sache auch ihre dunkle Seite v, eines Gedeihen von Räuberbanden udgl. hatte, so muß doch, eine solche Bewegung mitgelebt zu haben, eigenthümlichen Reiz haben.

Meinen besten Dank für alle Nachrichten zu Hause; grüße Bezold u. Hartmann, u. vor allem die lieben Deinigen von Deinem Freunde

Eduard v Martens.

Ich adressire den Brief an Gegenbaur, da ich Deine Adresse nicht weiß u. Deine Familie wohl unterdessen aus dem Reimer’schen Haus Haus ausgezogen ist.w

a gestr.: Jena,; b korr. aus: die; c gestr.: in; d gestr.: ein Buchstabe; e gestr.: an; f eingef.: u. klettern; g gestr.: d; h gestr.: w; i gestr.: und; j gestr.: u; k korr. aus: alles; l korr. aus: nun; m korr. aus die; n gestr.: Bek; o gestr.: um so; p gestr.: im Winter um; q gestr.: da allmälig, ganz mit dem sie nahezu mit der Sonne; r gestr.: Sem Sem; s gestr.: manche; t eingef.: neue; u gestr.: , aber; v gestr.: hab; w Text weiter am oberen Rand von S. 8: Ich … ist.

Brief Metadaten

ID
26266
Gattung
Brief ohne Umschlag
Entstehungsort
Chinesische See
Entstehungsland aktuell
China
Datierung
26.04.1861
Sprache
Deutsch
Umfang Seiten
8
Umfang Blätter
4
Format
13,9 x 21,5 cm
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 26266
Zitiervorlage
Martens, Eduard von an Haeckel, Ernst; Chinesische See; 26.04.1861; https://haeckel-briefwechsel-projekt.uni-jena.de/de/document/b_26266