William Marshall an Ernst Haeckel, Leiden, 7. Dezember 1870

Leiden 7 Dec 1870.

Sehr geehrter Herr Professor!

Meinen herzlichen Dank für die mit einem so freundlichen Brief begleitete Photographie. Gleich am andren Tag machte ich mich mit einer Loupe gerüstet auf und untersuchte alle Korallenstöcke et.c. des Reichsmuseum’s auf Kalkschwämme allein vergebens, wohl fand ich einige kaum erbsengrosse Dinger die sich aber leider als Silicispongien herausstellten. Was sagen Sie zu den Untersuchungen von Saville Kent über Silicispongien? Mir scheinen sie recht dilettantenhaft, da eine Nadel und hier ein Nädelchen, et.c.; dass es auch junge Spongien giebt, davon scheint der Mann keine Idee zu haben, einige die er jüngsta beschrieben hat machen auf mich ganz den Eindruck junger || Hyalonemen oder Hyalothaumen. Den Wachtsthumsvorgang dieser beiden und der Euplectellen kann ich mir absolut nicht vorstellen; bedeutungsvoll scheint mir bei Hyalonema die spiralige Drehung des Axenstrangs. Neulich bin ich in der Gelegenheit gewesen die prachtvolle Corbitella speciosa Gray (die das eigentliche Alcyonium v. Quoy u. Gaimand ist, das man so lang für Euplectella hielt) zu untersuchen, es ist das zweite Exemplar in Europa! Die Nadeln haben die bekannte Kreuzform aber jeder Ast trägt am Ende einen zarten Bogen ungefähr so: [Zeichnung eines Krückenkreuzes]. Ich werde, wenn Sie wünschen, Ihnen Praeparate von dieser, von Hyalonema, von den beiden Euplectellen und von Herklotsens & meiner Hyalothauma (ein wundervolles Ding) senden! Jetzt bin [ich] ganz in Wirbelthiere aufgegangen und nebenbei in menschlicher Anatomie in der ich auch Repetitor gebe. Stroh || dreschen, aber man verdient ein wenig Geld damit. Mehr Special untersuche ich os quadratum und bin durch meine bis jetzt erlangten Resultate, besonders an Crocodilembryonen und erwachsenen Cetaceen (silicidela)b, dahin gekommen es für eine Verschmelzung des tympanicunes mit dem squamosum zu halten, bei Vögeln sehe ich noch nicht recht klar! Das was man bei Crocodilen bis jetzt squamosum nannte halte ich für mastoideum.

Ein ganz besonders interessanter Kerl ist der Delphinus gangeticus von dessen Ohrgegend ich Ihnen eine Skizze beizulegen c mir erlaube. Haben Sie vielleicht in Jena einen abgelegten Delphinembryo, wenn er noch so schlecht wäre und dieser Theil sich ganz erhalten hätte, würden Sie mich sehr, sehr beglücken. Ich gebe mir hier im ganzen Land die grösste Mühe kann aber keinen bekommen. Im Reichsmuseum haben wie neun, aber die sind || zum Angucken! Da steht auch ein Physeterembryo nicht grösser als – eine Hand! Der Kerl hat mir manchen Kummer gemacht und verführt mich beinah immer wenn ich ihn sehe zu einem Verbrechen. Neulich habe ich einen Vortrag in unsrem naturwissenschaftlichen Verein über Hemmungsbildungen und Rückschläge beim Menschen (natürlich vom Standpunkt der Darwin-Haeckelschen Theorie aus) gehalten, der mir viele Mühe gemacht hatte! aber auch viel Vergnügen. Ich habe jetzt ein Paar sehr langweilige Notizen publicirt, die blos geschrieben sind um von den Thiergärten ein bisschen Material für meine Fortsetzung von Bronn zu bekommen! Ich habe in diesen Dingen so wenig Hülfe von meinem Chef!

Mit der Bitte mich Ihrer werthen Frau Gemahlin bestens zu empfehlen

bin ich Ihr treuer und dankbarer

Schüler William Marshall ||

[Beilage: Beschreibung der Ohrgegend des Delphinus gangeticus]

a, sonderbare Entwicklung der praemaxillaria welche sich wie Muskeln über den Nasenlöchern erheben, so dass vor diesem ein grosser Hohlraum ist.

b.b. Frontale, c. parietale. e, squamonum mit accessorischem Jochbogen, der dem proc.

orbitalischen des Quadratbeins entspricht während d das eigentliche Jochbein g, ganz rudimentaer geblieben ist. d. occipitale. f. mastoideum, welcher bei dieser Art gesondert geblieben ist während es bei andern Artene innig mit dem Occipitale verschmilzt, sodass nur auf der Innenseite Reste einer Nath zu sehen sind.

W. Marshall. ||

[Zeichnung der Ohrgegend des Delphinus gangeticus]

a korr. aus: jüggst b eingef.: (silicidela); c gestr.: ich; d gestr.: , ; e eingef.: Arten

Brief Metadaten

ID
26238
Gattung
Brief ohne Umschlag
Entstehungsort
Entstehungsland aktuell
Niederlande
Entstehungsland zeitgenössisch
Niederlande
Datierung
07.12.1870
Sprache
Deutsch
Umfang Seiten
5
Umfang Blätter
4
Format
13,1 x 20,7 cm
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 26238
Beilagen
Beschreibung und Zeichnung der Ohrgegend des Fluß-Delphins
Zitiervorlage
Marshall, William an Haeckel, Ernst; Leiden; 07.12.1870; https://haeckel-briefwechsel-projekt.uni-jena.de/de/document/b_26238