William Marshall an Ernst Haeckel, Leiden, 14. Januar 1870

Leiden 14 Jan. 1870.

Sehr geehrter Herr Professor!

Meinen herzlichsten Glückwunsch Ihnen und den Ihrigen zum neuen Jahr, mögen sich alle Ihre Wünsche realisiren. – Wie geht es denn in dem alten guten Jena? Sie sind gewiss noch sehr beschäftigt mit den Calcispongien, Geschöpfe die wie Sie aus Erfahrung wissen, mir noch ganz unbekannt sind. Die Sachen die Sie von mir gehabt haben waren einfach mit Salzsäure behandelt und hatten in derselben gebrausst; was natürlich von fremden Bestandtheilen herrührte. Wenn es auch keine Calcispongien waren, so waren es doch wohl z. Th. sehr schöne Sachen, besonders die Exemplare von der Perronischen Reise, es sind Unica, die 1815 aus Paris hier-||her „bei Versehen“ mitgebracht sind. Die Franzosen hatten nämlich unser damaliges Museum wie so vieles Andre annectirt oder wie die Holländer sagen „annexirt“. Wir erwarten hier dieser Tage den jüngeren Agassiz, ich bin sehr gespannt auf den Mann. Jetzt habe ich recht viel zu thun, ich denke die Voegel in Bronns Classen und Ordnungen von Selenka zu übernehmen, weil es demselben bei seinen vielen Collegien an Zeit gebricht, und da muss ich freilich viel Litteratur durch nehmen, dasa b Buch der Natur, um mich einer zopfigen Phrase zu bedienen nicht am wenigsten. Neulich habe ich einen Presbytis albigena (Gray Proc. zool. Soc. 1850) untersucht und bin auf sonderbare Dinge gestossen. Man hat doch bis jetzt bei allen Semnopithecen (Semnopithecus, Colobus & || Presbytis den sonderlichen complicirten Magen gefunden, ich mache mich also mit der Hoffnung das Ding einmal und frisch in natura zu sehn an meinen Semnopithecus albigena und finde – einen ganz gewöhnlichen Cercopithecusmagen. Wäre das Factum wohl interessant genug um eine Notiz davon in die Jenaische Zeitschrift zu geben?

Wenn ich mich erst ein Wenig in die Anatomie der Vögel eingearbeitet habe, will ich einmal die Schwämme, welche Michelotti und Fonbressin so traurig bearbeitet haben, einer gründlichen, microscopischen und vergleichenden Untersuchung unterwerfen; das Material befindet sich im Lande und die Harlemer Gesellschaft wird wohl die Herausgabe übernehmen. Sonst geht hier Alles wie früher, mein || Chef hält orationes philippicas et in anatomicam et in microscopicam artem praecipne antem in eos qui Darwini Haeckelique theorias sequentur! Ich habe mich jetzt einigermassen daran gewöhnt und bin jetzt „dickfellig“ geworden. Was sagen Sie zu dem traurigen Zustand unsres Kefersteins? sein armes Frauchen thut mir herzlich leid. Wer wird wohl sein Nachfolger werden? ob wohl Grenacher? man spricht in Goettingen (ein dreimal gesegnetes Philisternest) viel von Gegenbaur und Ehlers; erstrer ist entschieden hundertmal zu gut für die intrignanten dortigen Hof- und Medicinalräthe!

Mit der Bitte mich Ihrer werthen Frau Gemahlin bestens zu empfehlen

bin ich in alter Treue und Dankbarkeit

Ihr Schüler

William Marshall

Was ist Gegenbaur’s neues Werk prachtvoll, ein wahres opus cedro dignum!c

a korr. aus: dass; b gestr.: der; c Nachsatz am oberen Rand von Seite 1 kopfüber nachgetragen

Brief Metadaten

ID
26236
Gattung
Brief ohne Umschlag
Entstehungsort
Entstehungsland aktuell
Niederlande
Entstehungsland zeitgenössisch
Niederlande
Datierung
14.01.1870
Sprache
Deutsch
Umfang Seiten
4
Umfang Blätter
2
Format
12,3 x 20,3 cm
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 26236
Zitiervorlage
Marshall, William an Haeckel, Ernst; Leiden; 14.01.1870; https://haeckel-briefwechsel-projekt.uni-jena.de/de/document/b_26236