William Marshall an Ernst Haeckel, Leyden, 5. Juli 1869

Sehr geehrter Herr Professor!

Meinen herzlichen Dank für Ihren, wenn auch niederschlagenden, doch so freundlichen, ich darf wohl sagen freundschaftlichen Brief! Wie liebenswürdig ist es von Ihnen zu glauben, dass auch ich vielleicht eine Notabilitaet werden könnte; es ist dies eine Hoffnung die ich lange aufgegeben habe; ich wünsche nur so viel, dass ich mein ehrliches Stück Brod verdienen kann ohne dass man mir je zumuthet meiner Ueberzeugung untreu zu werden. Dafür ist hier am Museum leider wenig Hoffnung, wo man fast täglich hören muss, dass man Darwinianer, Microscopiker, Anatom Morpholog und Gott weiss was sonst ist. Augenblicklich habe ich durch die Güte meines Vaters so viel dass ich leben kann, aber mein guter Vater ist alt! Sie sehn ich bin offen und ich weiss, dass ich es Ihnen gegenüber sein darf. – Ich werde den Versuch machen ob man mich hier von den propaedeutischen Examinibus frei lassen wird und dann in Groningen promoviren; hier in Leyden auf || keinen Fall, Selenka und ich sind zu intime Freunde ja sogar seit Goettingen Duzbrüder, das weiss man hier und der Hass gegen die Deutschen ist so gross dass man leicht ungerechte Consequenzen machen würde. Ich würde sehr gern nach Indien gehen, habe aber keine Lust für Schlegel dort den ganzen Tag Piepmätze zu schiessen, und er seinerseits wird keine Lust haben, jemanden eine naturwissenschaftliche Stelle in unsern Colonien zu besorgen, der dort Nacktschnecken und Coelenteraten untersuchen würde und von seinem Standpunkt hat er recht.

Ihr Billet habe ich an Schlegel besorgt, an dem es gewiss nicht liegt wenn Sie die Spongien nicht erhalten. Ich glaube Herklots, der Conservator für die niedern Thiere stellt sich auf den Rechtsboden; es ist nemlich eine Bestimmung dass Nichts ausserhalb dem Museum, nisi Doubletten, untersucht werden darf; zur Illustration will ich Ihnen noch das Folgende mittheilen: Im März 1868 war, während der Abwesenheit von Herklots; Kölliker hier und nahm unsere sehr reiche Sammlung von Pennatuliden mit, Thiere mit deren Herklots sich wie Sie wissen werden speciel be-||schäftigt hat und über die er ein noch nicht vollendetes Manuscript liegen hatte, wozu die Tafeln schon lithographirt waren. Kölliker nun hat die Objecte noch nicht wiedergesand und auch noch gar nichts von sich hören lassen, wodurch H. in einen gewissen Aerger über deutsche Zoologen lebt! Er ist sonst ein sehr vortrefflicher Mann und hat mir und Selenka immer nur Gutes erwiesen in diesem Punkte giebt er aber meinem Zureden nicht nach. Selenka hat gar nichts ausser einer schönen Sammlung für vergleichende Anatomie, da er aber im August nach St. Malo geht so werde ich ihn bitten dort an Sie zu denken. Gegenwärtig sind hier schon Ferien und Selenka hat sich nach Braunschweig, seiner Vaterstadt, zurückgezogen um ein Bischen für Bronns Classen und Ordnungen zu arbeiten, ehe er aber nach Frankreich geht kommt er noch hierher und holt zwei seiner Schüler ab. Ich würde auch gerne mitgehn, es fehlt mir aber an Allerlei! Ich bin hier so nah am Meere, dasselbe ist aber so arm dass man sich keine Vorstellung davon machen kann. Höchstens findet man || nach starken Nord-Westwinden zerschellte Aurelia aurita, Pectinaria belgica und Mya truncata, in diesen letztern sehr häufig /in jedem dritten Exemplar/ die schöne Malacobdella Valenciennaei Blanch. schmarotzend unter dem Mantel, und zwar in Exemplaren bis 1 ½ Zoll; einmal habe ich ein paar Doris stellata gefunden.

In der Hoffnung, dass Sie mir stets ein gutes Andenken bewahren möchten und mit der Bitte mich Ihrer sehr geehrten Frau Gemahlin bestens zu empfehlen

bin und bleibe ich Ihr treuer Schüler

William Marshall

Leyden. 5 July 1869.

Brief Metadaten

ID
26235
Gattung
Brief ohne Umschlag
Entstehungsort
Entstehungsland aktuell
Niederlande
Entstehungsland zeitgenössisch
Niederlande
Datierung
05.07.1869
Sprache
Deutsch
Umfang Seiten
4
Umfang Blätter
2
Format
12,3 x 20,3 cm
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 26235
Zitiervorlage
Marshall, William an Haeckel, Ernst; Leiden; 05.07.1869; https://haeckel-briefwechsel-projekt.uni-jena.de/de/document/b_26235