Karl Gude an Ernst Haeckel, Magdeburg, 30. Oktober 1870
Magdeburg, den 30 Oct. 1870
Mein lieber Freund!
Herzlichen Dank für Deine freundliche Sendung, mit der Du mich abermals beglückt hast. Wie so vieles in derselben mir neu war, so auch die Mittheilung, daß Du an der Norwegischen Küste das Meer untersucht hast. Ich habe sämtliche Broschüren, die ich von Dir besitze, dem Oberlehrer Schreiber, dem Vorsteher des hiesigen naturwissenschaftlichen Vereins zum Lesen geliehen. Der Verein hat seit Michaelis nur erst einmal getagt, da die politischen Interessen jedes andere verschlingen. Der Gegenstand des Vortrags war ein Referat des Steuermanns von der Hansa, die bekanntlich in dem Polareise zerquetscht worden ist, so daß die Mannschaft über 200 Tage auf einer Eisscholle hat zubringen müssen. Der Vortragende, ein Sohn des Predigers Hildebrandt hierselbst, fesselte natürlich die Zuhörer durch die Mittheilungen | seiner Erlebnisse sehr. Fortsetzung derselben ist bis jetzt noch nicht erfolgt, und vor der Beendigung des Krieges wird der Verein wohl nur vegetiren. Wann aber wird dieser grauenvolle Kampf enden? Es ist doch eine furchtbare Nemesis, die über das eitle, verlogene Franzosenvolk hereinbricht – aber es kostet uns unser theuerstes Blut. Vor wenigen Jahren lauschte und horchte noch ganz Europa, was „Er“ am Neujahrstage gesagt hatte, und nun ist das ganze hohle Gebäude dieses Jesuiten-Kaisers zusammengestürzt und mit ihm das des Jesuiten-Papstes. Beide waren auf Lug und Trug gegründet, darum mußte, wenn das eine fiel, auch das andere fallen. Napoleon und der Papst spielten unter einer Decke. – Wenn man sich das menschliche Leben von seiner grauenvollen Seite ansieht, so muß man sagen, das Beste davon ist, daß es nicht ewig währt.
Wie ich in meinem Hotel erfahren habe, so bist Du auf dem Kriegsschau-||platze gewesen, also nicht nach der Dalmatischen Küste gekommen. Gern hätte ich Dich bei Deiner Durchreise gesprochen, zumal ich bei Deiner letzten Anwesenheit in Magdeburg so herunter war, daß Du von mir gar nichts gehabt hast. Jetzt geht es etwas besser mit mir, wenigstens ist die Schlaflosigkeit nicht mehr so arg, als in den vorigen Jahren. Zur vollen Gesundheit komme ich natürlich nicht wieder. Die Sommerferien habe ich im Bodethale zugebracht, da weitere Reisen mir nicht bekommen. Leider erschien schon 10 Tage nach dem Beginn der Ferien die Kriegserklärung Frankreichs und da war denn bei mir alle Ruhe zu einem beschaulichen Leben dahin. Ich konnte es nicht mehr aushalten in den Bergen, denn die Gedanken waren nur auf die Zukunft gerichtet, packte daher meine sieben Sachen zusammen und fuhr nach Magdeburg in das bewegte Menschen-||leben. Auch die Herbstferien habe ich in der alten Festung zugebracht, die jetzt ein gar buntes Bild darbietet. Geht man Abends den breiten Weg entlang, so glaubt man sich in Paris versetzt, denn überall wird von den herumlungernden französischen Offizieren geschwatzt und auch gescherzt; sieht man am Tage die Gefangenen nach der Arbeit abführen, so glaubt man in Algier zu sein; es fehlt selbst nicht das tiefste Schwarz der Haut und der Turban auf dem Kopfe. Zum Arbeiten bin ich bis jetzt noch nicht gekommen, meine einzige Arbeit ist – das Lesen der Zeitungen. Nur in der Schule beim Unterrichten werden die Gedanken etwas abgezogen. Aber auch die Mädchen sind nicht bei der Sache und ihr patriotischer Sinn hat sich in der erfreulichsten Weise auf die mannigfachste Art kundgegeben. Neulich haben sie, ganz aus sich selbst heraus, eine Lotterie unter sich veranstaltet und über 200 Thaler zusammengebracht. Wo es irgend geht, wollen sie in den Stunden Strümpfe für die braven Truppen stricken, was ihnen natürlich auch gestattet wird. – Nun nochmals herzlichen Dank u. Gruß auch für Deine liebe Frau. Von ganzer Seele
Dein
Gude.