Julius Michelsohn an Ernst Haeckel, Hamburg, 24. April 1919

DR. JULIUS MICHELSOHN

PRIVATKLINIK FÜR CHIRURGISCHE

UND FRAUENLEIDEN.

ORTHOPÄDISCHES UND RÖNTGEN-INSTITUT.

HAMBURG, DEN 24/4 1919

KLOSTERALLEE 46 (SCHLUMP-HALLERSTR.)

Mein verehrter, teurer Lehrer!

Ihre Briefe vom 23/2 & 15/3 habe ich erhalten. – Ich danke Ihnen von ganzem Herzen für die Zusage wegen der Büste. Mein Schwiegersohn wird Ihrem Wunsche gemäß erst kommen, wenn der Frühling eingekehrt & wenn die Verkehrsverhältnisse besser geworden sind. Ein eigentliches Sitzen zum Modellieren ist auch nicht notwendig, somit wird jede Beschwerde & Belästigung in Fortfall kommen! Vor einigen Tagen schickte ich für Sie per Post 2 Flaschen Cacaoliqueur, 1 Flasche Süßwein & 1 ℔ Butter; der Liqueur ist blos 25%, von reinstem Honig, Spiritus und Cacao, so daß Sie ihn anstatt Cognac genießen dürfen. Reiner Cognac ist so schwer aufzufinden.

Ich wünsche, daß diese meine neue Medicin Ihre Beschwerden Ihnen erleichtern mögen. Ich weiß nicht, ob Sie schon 10 ℔ Zucker erhalten haben, er sollte Ihnen aus Wernigerode zugeschickt werden. Auf jeden Fall kommt er hoffentlich bald. Ich bitte sehr darum, Ihre Bedienten veranlassen zu wollen, daß sie mir baldigst die Kisten zurücksenden, da ich sie notwendig gebrauche. ||

Die Broschüre von Dodel & das Programm für den Monismus habe ich gelesen. Ich danke Ihnen für die Ueberlassung. Selbstverständlich bin ich Ihnen für jede weitere Sendung Ihrer Werke außerordentlich dankbar. Die Physiognomischen Studien besitze ich!

Als Student im 3. Semester, vor 33 Jahren, begann ich mit der Lectüre Ihrer Schriften: die Phylogenie war mein erstes Buch, das meine Seele errettet hat. Ich sollte eigentlich Philologie studieren & war über mein Medicinstudium sehr unglücklich. Wie gewöhnlich hatte ich auf dem Gymnasium nur philologische Erziehung & Interessen & von Naturwissenschaften & dem Menschen keine Ahnung. Hyrtls Anatomie hat mir die Anatomie durch die historisch-philologischen Bemerkungen verschönt, Ihre Phÿlogeniea erst die erste Liebe für die Natur erweckt. Nie kann ich Ihnen diese Erlösung von seelischen Qualen vergessen & deshalb bleib ich Ihnen stets dankbar. Auch ich habe in meiner Jugend die Leidensgeschichte eines ultra-orthodox Erzogenen durchgemacht, auch ich habe mich zu einem freien confessionslosen wissenschaftlichen Menschen entwickelt! Zu einem großen Teil danke ich es Ihnen!

Nun wünsche ich Ihnen einen beschwerdefreien Frühling & Sommer, möge Ihre Gesundheit gekräftigt werden. Mit den schönsten & besten Wünschen & Grüßen

Ihr Sie liebender Schüler

Julius Michelsohn

a korr. aus: Philologie

Brief Metadaten

ID
25614
Gattung
Brief ohne Umschlag
Entstehungsort
Entstehungsland aktuell
Deutschland
Entstehungsland zeitgenössisch
Deutsches Reich
Datierung
24.04.1919
Sprache
Deutsch
Umfang Seiten
2
Umfang Blätter
1
Format
22,4 x 28,4 cm
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
A 25614
Zitiervorlage
Michelsohn, Julius an Haeckel, Ernst; Hamburg; 24.04.1919; https://haeckel-briefwechsel-projekt.uni-jena.de/de/document/b_25614