DR. JULIUS MICHELSOHN
PRIVATKLINIK FÜR CHIRURGISCHE
UND FRAUENLEIDEN.
ORTHOPÄDISCHES UND RÖNTGEN-INSTITUT.
HAMBURG, DEN 30. Oct. 1918
KLOSTERALLEE 4–6 (SCHLUMP-HALLERSTR.)
Mein verehrter Herr Geheimrat!
Mit grossem Bedauern erfuhr ich aus Ihrer Karte, dass auch Sie nicht von der neuen Krankheit verschon geblieben sind. Nun wuensche ich Ihnen eine recht baldige Genesung. Um diese zu beschleunigen erlaubte ich mir, Ihnen einige neue Kriegsmedikamente zu senden, weil ich annahm, dass Ihre namhaften Jenenser Professoren ueber solche Medizinen nicht verfuegen. Die Dosis die Sie zu nehmen haben ist at libiton, denn fuer Ersatz kann gesorgt werden, wenn Ihnen die Medizin behagt und zusagt. Auf Ihre in Aussicht gestellte Sendung freue ich mich besonders. Ich kann es Ihnen nachfuehlen, dass Sie unsere Zeit, namentlich für Deutschland trostlos finden. Ich habe es geahnt und habe es Allen, die es hoeren wollten vorausgesagt, dass wir eine Niederlage erleiden wuerden. Das war fuer mich Naturgesetz. Man kann nicht gegen eine ganze Welt fuer die Dauer ankaempfen. Die preussische, bornierte, militaristische, reaktionaere und mittelalterliche Regierung war am wenigsten einem solchem Kampfe gewachsen. Das diese Regierung zu Grunde geht ist fuer Deutschland ein Segen, gewiss ist es jammervoll dass deswegen die furchtbarsten Opfer gebracht werden mussten.
Schliesslich ist doch alles Entwicklung und folgt folgerichtig den gegebenen Ursachen entsprechend. Ich brauche Ihnen nicht zu sagen, dass in Preussen und Deutschland auch die Wissenschaft unfrei war. Bei dem jetzigen Leid bin ich ueberzeugt, dass die geistige und soziale Hoeherentwicklung der Menschheit und auch Deutschlands weitergehen wird. Bestimmt wird ein neues Leben aus den Ruinen entstehen. Traurig bleibt es doch, dass wir teilweise gerade diese Ruinen sein muessen. Die Naturgesetze sind aber unabaenderlich und oft recht grausam. Mit den schoensten Gruessen, und mit nochmaligem Wunsch einer baldigen Besserung, ||
bin ich Ihr dankbar ergebener, Sie verehrender und liebender Schueler
Julius Michelsohn