Wilhelm Osterwald an Ernst Haeckel, Merseburg, 16. Februar 1853

Merseburg, den 16ten Febr. 1853

Da ich nicht dazu gekommen bin, Ihnen, mein lieber Ernestus, zu Ihrem Geburtstage zu schreiben, so will ich wenigstens an diesem Tage die Feder ergreifen, um Ihnen zu beweisen, daß ich noch immer ein getreuer Gevatter bin. Ich habe in Berlin zwei Briefe von Ihnen gelesen, auch den, in welchem Sie vermuthen, daß ich schon wieder fort wäre, und worin Sie sich wundern, was mich in so ferienloser Zeit fast commentwidrig nach Berlin führen könnte. Sie kommen ja fast auf die Schliche der guten Merseburger! Denn daß die gleich daran gedacht haben, ich bewerbe mich um irgendwelche fette Stelle beim Minister oder wer weiß was sonst – versteht sich von selbst. Und Ihnen ist Merseburg schon so fremd, daß Sie nichts mehr von der patriarchalischen Einrichtung der Fastnachtsferien wissen? Sie dauern freilich nur 3 Tage, aber wenn man so gute u. liebe Collegen hat, kann man auch ein paar Tage länger in Berlin bleiben und sich trefflich amüsiren. Ich hatte mir längst vorgenommen einmala nach Berlin zu reisen u. zwar – des Theaters wegen – in der Wintersaison, u. da kamen dann die Fastnachtsferien, da ein zärtlicher Familienvater die Weihnachten doch gern en famille feiert, mir höchst gelegen. Ich bin Ihren lieben Eltern höchst dankbar, daß sie mich so freundlich aufgenommen haben, denn es ist eine wesentliche Erhöhung des Genusses, wenn man nach dem Anschauen u. Anhören so vieler Schönheiten Mittags und Abends bei so lieben Leuten à son aise respiriren kann, und es ist eine große Freude, wenn man sieht, daß die lieben Leute eben die lieben Leute geblieben sind. So war mir also das Respiriren im Hause Ihrer Eltern nicht nur eine leibliche sondern auch eine wahre Seelenerquickung, und ich freue mich immer wieder wenn ich an die wunderbare Frische und edle Begeisterung Ihres Vaters und die seelenvolle Herzensgüte Ihrer Mutter zurückdenke. –

In Berlin selbst hatte ich es sehr gut getroffen, ich habe ziemlich alle Theater durchgekostet und bin überall sehr befriedigt. Daß ich die Museen, den alten Fritz, den Kreuzberg etc. gesehen versteht sich von selbst, u. eigentlich wohl auch, daß ich in d. botanischen u. zoologischen Garten gegangen bin. Daß ich Sie dabei gern zum Führer gehabt hätte, können Sie sich denken. || Ich habe während der 8 Tage in Berlin Eindrücke aufgenommen, an denen ich hier Jahre lang zu zehren habe! – Leider fand ich bei meiner Rückkehr beide Kinder krank, Marie hat sich jetzt ziemlich wieder erholt, Ernst leidet noch sehr am Husten, obgleich es auch mit ihm wieder bedeutend besser geht. Der arme kleine Kerl ist aber ganz abgemagert dabei. –

Mit meinen schriftstell. Arbeiten bin ich wenigstens bis zu einem kleinen Ruhepunct gediehen (sonst wäre ich nicht nach Berlin gereist). Der erste Theil der Homerischen Forschungen wird in dieser, spätestens in nächster Woche fertig sein u. ausgegeben werden. Schade daß ich nicht schon die letzten Aushängebogen aus der Druckerei erhalten kann, ich würde Ihnen sonst sofort ein Exemplar mitschicken. Jedenfalls sollen Sie eins haben, sobald es möglich ist. – Vom Programm, welches dieselben Ideen für Hartmanns Iwein nachweist, ist eben der zweite Bogen gedruckt. – Dazwischen habe ich ein früher schon angefangenes Drama: Walter und Hildegunde beendet, das aber wohl noch einige Zeit im Pulte ruhen wird, und zur Completierung der Märchen, die Sie zum Theil kennen, noch einige Naturbilder gemacht, die ich mit den Märchen zusammen unter dem Titel „Im Grünen“ herauszugeben gedenke. Ich bin mit Franz Duncker in Berlin deshalb in Unterhandlung getreten. Die Naturbilder sind b poetische Bilder aus der Pflanzenwelt (in Distichen): Birke, Lombardische Pappel, Tanne, Linde, Mistel auf d. Linde mit Hineinwebung des Baldurmythus, Weide, Trauerweide, Erle, Espe, Flieder, Hollunder, Buche, Wachholder, Eiche. Da ich weiß || daß Sie sich für dieß Genre besonders interessiren, schreibe ich Ihnen so ausführlich darüber. Vielleicht lockt Sie diese Nachricht auch, nicht an Merseburg vorbeizufahren, wenn Sie nach Berlin reisen. Sie sollen mit offnen Armen empfangen werden. Von der Schule wird Ihnen wohl Weiss geschrieben haben. Auch wir haben unsern Fackelzug gehabt, so gut wie Sie in Würzburg. In Prima und Secunda ist im Examen leidliche, zum Theil erfreuliche Empfänglichkeit, aber eine so stattliche Generation, wie die Ihrige war, ein so trefflicher Jahrgang wie der, den ich bei meinem Herkommen in Prima vorfand, stellt sich noch nicht wieder ein.

Ich weiß nicht, ob ich mich darüber täusche, aber im Ganzen scheint mir doch, daß unsre Schüler der obern Klassen einen vortheilhaften Zug zum Idealen in Kunst und Wissenschaften hätten und sich dieses ideale Streben auch auf der Universität bewahrten. Auch Ihr Herr Vater äußerte sich in einem ähnlichen Sinne. Zu meiner großen Freude, denn ich halte es jetzt, wo das Universitätsleben wieder in den nacktesten Materialismus zu versinken droht und sich zu einem Seminar für Kauf- und Actenmenschen zu degradiren scheint, für eine doppelte Pflicht des Gymnasiums, den Sinn für das Ideale zu wecken und zu nähren. –

Der ehrwürdige Geh. R. Weiss ist nun auch zur Ruhe. Friede seiner Asche. Wie bewundernswürdig er sich bis zum Ende die volle Klarheit des Geistes bewahrt hat, wie heroisch er gestorben ist, wird Ihnen wohl Weiss selbst geschrieben haben. –

Sie schreiben mir von der neuen Prachtausgabe des Faust. Die Bilder sind freilich nicht [mit] Kaulbachs Kühnheit und dreister Genialität gezeichnet, aber doch im Ganzen, so weit ich nach dem ersten Eindrucke schließen kann, schön, wenngleich einzelne Figuren etwas Steifes haben. Die technische Ausführung besticht sehr durch ihre Feinheit u. Sauberkeit.

Über Ihr Studium sind Sie doch nun im Klaren? Soviel ich von Ihrem Vater gehört, handelt es sich nur darum, des Stipendiums halber officiell im Album als Mediciner zu stehen, im Übrigen aber genio et ingenio indulgere. Alle Semester ein medicinisches Colleg gehört im Übrigen Mathematik u. Naturwissenschaften studirt und immer rüstig auf die akademische Carriere losgesteuertc – oder wenns nicht anders sein kann, auf das saure Lehrerleben los gearbeitet. In Summa ist das saure Lehrerleben doch nicht so arg, lieber Gevatter, es hat doch seine sehr süßen Momente, und Plato hält es für die höchste Wonne, Wahrheit und Ideen zu zeugen in der Seele der Jugend, und selbst, wenn wir Schulmeister auf gut sokratisch nur Hebammendienste verrichten bei der Ideengeburt, so ist das auch nicht so übel. Ich meinestheils möchte mit keinem andern Berufe tauschen. Na nu, das Papier wird alle und noch nichts von Ihrem Geburtstage! Prosit Neujahr – Verleben Sie’s gesund an Geist und gesund an Gemüth, und gesund vor allem auch an den „herrlichen Knieen!“ Und, hören Sie wohl? Fahren Sie nicht an Merseburg vorbei! Meine Frau läßt herzlich grüßen. Leben Sie wohl. Ihr Osterwald.d

a eingef.: einmal; b gestr.: pote; c eingef.: losgesteuert; d Text weiter auf dem linken Seitenrand: und gesund vor allem … Ihr Osterwald.

Brief Metadaten

ID
23799
Gattung
Brief ohne Umschlag
Entstehungsort
Entstehungsland aktuell
Deutschland
Entstehungsland zeitgenössisch
Königreich Preußen (Provinz Sachsen)
Datierung
16.02.1853
Sprache
Deutsch
Umfang Seiten
4
Umfang Blätter
2
Format
13,9 x 21,7 cm
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
A 23799
Zitiervorlage
Osterwald, Wilhelm an Haeckel, Ernst; Merseburg; 16.02.1853; https://haeckel-briefwechsel-projekt.uni-jena.de/de/document/b_23799