Wilhelm Osterwald an Ernst Haeckel, Merseburg, 1. – 3. Mai 1852

Merseburg, d. 1 Mai 1852.

Mein lieber Ernst,

Nehmen Sie vor Allem mein herzliches Beileid über das Unglück, das nun auch Sie, den ich immer für einen Sohn des Glücks gehalten hatte und gern auch jetzt noch hielte, dennoch in so schmerzlicher Weise getroffen hat. Ich fühle ganz mit Ihnen, was Sie einbüßen, indem Sie Jena während des Sommers nicht besuchen können. Ich möchte Sie gern trösten, aber ich kann Ihnen nichts zurufen als das Horazische: Durum! sed levius fit patientia quidquid corrigere est nefas, obschon ich weiß, daß einem Patienten gerade die Ermahnung zur patientia sehr ledern vorzukommen pflegt. Übrigens werden Sie in dem reichen Material, das Ihnen die Vatergabe der Intelligenz zur Selbsterbauung darbieten kann, wenn auch keinen Ersatz, so doch einige Entschädigung finden lernen. Wer weiß, wozu auch diese Digression Ihres Lebensplantes gut ist! Ihre brennende Ungeduld möchte sich freilich mit dem ganzen Feuereifer der ersten Liebe der Wissenschaft Ihrer Wahl in die Arme stürzen und sich ihr ganz und ausschließlich hingeben, und wenn es hätte sein können, wer wollte daran zweifeln, daß Alles schön und trefflich würde gewesen sein; da aber nun dieser verhängnißvolle Queerstrich gemacht ist, ließe sich da nicht, mein lieber guter, feuereifriger Gevatter, die Sache auch noch von einer andern Seite ansehen und könnten wir nicht in ruhigen, nüchternen – meinetwegen selbst ledernen Augenblicken – könnten wir nicht sagen, daß es vielleicht nicht schaden könnte, wenn Sie, bevor das „Fach“ Sie ausschließlich in Anspruch nimmt, einen allgemeineren Cursus den Sie nach Belieben einen philosophischen oder einen historischen nennen mögen, durchmachten? Und dazu ist Berlin gewiß der rechte Ort. Etwas Hegelei ein wenig logische Schürstiefelei u. wenn’s der Index lectionum hergiebt ein gutes Collegium über Geschichte der Philosophie oder umgekehrt, daneben ein historisches und ein geographisches bei dem unvergleichlichen Ritter neben den allgemeinen naturhistorischen, die sich ja bei Ihnen von selbst verstehen – nun das Alles giebt freilich keine Thüringer Flora, aber Sie werden doch manche flores und flosculi ingenii finden, die Sie mit Vergnügen in dem Herbarium vivum Ihres Gedächtnisses und Ihres Geisteslebens einlegen und aufbewahren werden. Ich setze dabei natürlich immer voraus, daß Ihr Knie schon jetzt wieder heil ist. Ich bin recht sehr über diesen hartnäckigen Rückfall erschrocken und habe mir Ihre ganze Angst, die Sie hatten, als der Schaden sich in meinem Hause zeigte, wieder in das Gedächtniß zurückgerufen und noch einmal mit Ihnen durchgefühlt. Gebe Gott, daß Sie, wenn’s nicht schon der Fall ist, recht bald Ihre volle Gesundheit wieder erlangen. – Sie überschütten mich wiederum mit einer Fluth von Äußerungen des Dankes für das, was ich an Ihnen gethan habe. Es giebt einen schlauen lateinischen Spruch: Gratiarum actio est ad plus dandum invitatio. Im Sinne dieses Spruches will ich denn Ihren Dank auch als eine Aufforderung betrachten, meine Gesinnung für Sie, wenn das möglich ist, zu immer größerer Wärme zu steigern. – Daß Sie die Gevatterschaft angenommen haben, freut mich herzlich. Sie sind wie meine Mutter, die gleichfalls leider nicht anwesend sein konnte, rite ins Kirchenbuch eingetragen worden. Der kleine Junge heißt Ernst Wilhelm Hermann. H. Diaconus Simon hielt eine vortreffliche und tief ergreifende Taufrede (am zweiten Osterfeiertage) und wir waren dann am Abend im Kreise unserer Zörbiger Verwandten und hiesigen Freunde resp. Gevattern (Subrektor Thielemann und Frau Musikdirektor Engel) heiter u. froh beisammen. Daß dabei Ihrer nicht vergeßen worden, können Sie sich denken. Der kleine Junge gedeiht prächtig und ich kann nur wünschen, daß Gott ihn auch fernerhin so behüten u. segnen möge. „Minchen“ hatte uns eine Zeitlang ziemlich erschreckt, sie hat ziemlich 3 Wochen an der Drüsenanschwellung gelitten und zwar zu einer Zeit, in der zwei Kinder hier an den Drüsen gestorben sind. Zum Glück erfuhr meine Frau das erst, als unser Töchterchen schon wieder gesund war, sie würde sich sonst viel mehr geängstigt u. sich u. dem kleinen Ernst sehr geschadet haben. Das Leben eines Kindes wie unser alles Leben hängt an einem Faden und wir haben wohl alle Ursach, Gott an jedem Morgen zu danken, daß wir noch leben. Jetzt ist der kleine Schelm zwar noch immer etwas blaß von der Krankheit, aber doch wieder wie eine Wachtel auf den Beinen und aller Schalkheit voll, so daß ich alle Hände voll zu thun habe und mich häufig zu einer recht bärbeißigen Miene zwingen muß, um sie von meinen Pflanzen abzuhalten, die auf den Andeutungen von Beeten stehen, die ich in hyperbolischer Weise meinen Garten nenne. Dieß minimum von Garten macht mir aber doch ein großes Vergnügen u. ich sehe den Keimen mit einem ganz ähnlichen Behagen und Interesse zu, wie es mir die eigenen Kinder einflößen, es giebt auch in der That nichts Ähnlicheres als Blumen und Kinder und der Umgang mit beiden, wie sentimentalisch es auch sei, giebt mir nach den Anschauungen des Berufes und der ernsteren geistigen Arbeit, eine so wohlthätige || Remission, eine so in sich gleichschwebende Gemüthsruhe, eine so wahrhafte Erholung, wie ich sie kaum wo anders zu finden wüßte. Es liegt unzweifelhaft ein sehr bedeutendes sittigendes u. läuterndes Element in dem Umgange mit Blumen u. Kindern, und da man das anfänglich schielende Interesse sehr bald mit dem ernsteren – botanischen u. pädagogischen – verbinden lernt, so hat man auch für die Bildung des Geistes eine nicht zu verachtende Ausbeute dabei. Sie werden lachen, wenn ich nun daran gehe, Ihnen die Schätze meines „botanischen Garten“ zu verzeichnen, aber ich denke, dieses Verzeichniß wird gut sein, um Sie auch für den Sommer über den Fleck, den Sie ein halb Jahr Ihre Heimath nannten, zu orientiren. Ich habe den wilden Fleck, auf welchem die Thüringer und sächs. Schlingpflanzen standen, behutsam umgegraben und die Keime umgelegt. Dabei habe ich die einzelnen Pflanzen in einem Stadium beobachten können, in dem man sie selten sieht, u. ich hätte wohl gewünscht, daß Sie dabei gewesen wären. Am merkwürdigsten sah die kleine Pinguicula aus, die kleine Fettblume, die auf Moorwiesen wächst (ich habe sie zwischen Paulinzelle u. Langenwiesen sehr häufig gefunden) die Pflänzchen hatten sich schon unter der Erde mit völlig entwickelten nur noch an einander geschlossenen Blättchen gebildet und fielen beim Auseinanderbröckeln des Erdkloßes (wie eine Knospe von Syringa vulgaris) heraus. Die Wurzelfäserchen sehr dünn u. spärlich, etwa, wie in d. nebenstenden Figur [Zeichnung am linken Rand]. Ich habe 4 Pflänzchen davon. Ferner Trollius europaeus 7 Exempl. Pyrola secunda. Pyrola uniflora. Viola biflora (2 Exempl.) Majanthemum bifolium. Convallaria verticillata. Cono. multifl. Epilobium angustifolium. Epilob. roseum. Spiraea filipendula (von Ihnen gepflanzt) Spiraea Aruncus. Dictamnus albus. Anemone silvestris, nemerosa, hepatica, ranunculoides. Corydalis fabacea (von Leislingen geholt) Corydalis cava (von Trapart geholt) Scilla bifolia (von Leislingen geholt) Muscari (das blaublühende von Ihnen, das grünbl. wohlriechende von Frau Prof. Wieck.) Tulipa silvestris. Gentiana pneumonanthe (2 Exempl.) Lilium Mastagon. Daphne Mezereum. Arum maculatum (v. Hündorf.) Orchis fusca, latifolia, palleus, sambucina, ustulata, Morio u. noch etwa 5 Arten, die ich noch nicht kenne, Leucojum vernum (von Weiss aus Eilenburg mitgebracht), Thlaspi alpinum (ebenso) Impatiens nolitangere (hat sich sehr weit ausgebreitet) Sedum purpur (von Ihnen) Digitalis etc. etc.

Ich habe bei dem Umlegen viel Glück gehabt u. freue mich jeden Morgen, wenn ich einen Keim nach dem andern hervorkommen sehe. –

Da Sie sehen, daß ich so viel wie meine Pflanzen schwätze, so können Sie sich nun auch vorstellen, mit welcher Freude ich Ihr sinniges Andenken: das grüne Futteral mit den für mich aufgeklebten Pflanzen gefunden und an mich genommen habe. Es ist ein so liebenswürdiges Geschenk, daß ich die Conjectur gemacht habe und meine Frau dito: „Ernsteken“ habe es mir zum Geburtstag zugedacht und – der Herr Gevatter ist doch nicht böse? – habe sich nicht – getraut, es zu überreichen. Denn dazumal war Ernsteken noch nicht Student und soll allerdings Stunden gehabt haben, in denen er sich verschiedene Dinge nicht getraute. Summa: ich habe mich außerordentlich gefreut und danke Ihnen herzlich. –

Und nun muß ich wohl auch vom Einpacken der Sachen a reden, die Sie früher erhalten werden, als meinen Brief. Das Herbarium habe ich selbst umgelegt in der Überzeugung daß es so fester liegen werde, das ungeordnete Heft habe ich geschnürt u. überhaupt Ihre Andeutungen gewissenhaft befolgt. – Die Bücher u. die Wäsche so wie die meisten übrigen Sachen hat meine Frau mit dem Mädchen gepackt, dabei ist auch Lorenz Stark von Engel eingepackt, ich bitte ihn durch Eichhoff, der in d. Hundstagsferien nach Berlin kommt, wieder mit zurückzuschicken. Einiges ist, wie es ja wohl zu geschehen pflegt, doch zurückgeblieben; dahin rechne ich zwei Börsen, in denen Ihr Geld war, ferner den Strohsack u. Ihre beiden Abhandlungen, die Weiss an sich genommen hatte. Außerdem wollte Weiss Ihnen noch Pflanzen schicken, doch b kam er damit zu spät. Wenn es Zeit hat, so erhalten Sie Alles durch Eichhoff, wünschen Sie das eine oder das andere früher, so schicke ich es Ihnen p. Post. Vielleicht findet sich c noch einiges dazu. Haben Sie nur die Güte zu schreiben, wenn Sie noch etwas vermissen sollten. Der Begriff der Bagatelle, || über die ich verfügen sollte, ist nicht durch mich, sondern durch Minchen, die beim Packen zugegen war, auf gewiße Süßigkeiten ausgedehnt worden, über deren Fehlen Sie sich daher nicht wundern mögen. Die Berechnung über d das vorgefundene Geld u. d. Ausgaben lege ich bei. Sie habe danach noch 10 Thlr. 50 gℓ gut, die ich, wenn nicht anderweitig darüber disponirt werden soll, mit den übrigen oben erwähnten Sachen durch Eichhoff oder per Post schicken werde. Haben Sie nun die Güte, Ihre Frau Mutter zu ersuchen, uns die Gegenrechnung einzusenden.

Aus Merseburg giebts wenig Neues zu melden. Die Reception ist dießmal ziemlich stark gewesen – etwa 30 sind neu aufgenommen. Der Gesamtnumerus ist 145 – vor zwei Jahren waren’s 115 – wir sind also im Steigen, können’s auch gebrauchen. In Prima vermisse ich sehr Sie und Ihre Commilitonen. Es wird eine Weile dauern, bis wieder ein so guter Jahrgang in Prima sitzt; womit jedoch nicht gesagt sein soll, daß nicht einzelne in der Prima zu recht erfreulichen Hoffnungen berechtigen. Finsterbusch hat die Theologie nun definitiv quittirt und ist in castra philologorum übergegangen. Zierhold, der nach Prima versetzt ist, hat sich entschlossen, Theologie zu studiren, treibt eifrig Hebräisch und ist sehr ernst geworden.

Ihre lieben Eltern bitte ich von mir u. meiner Frau herzlich zu grüßen. Sie mögen entschuldigen, daß ich nicht auch an sie mitgeschrieben habe, das neue Semester bringt neue Arbeit – in der Secunda sitzen 23 – u. so bin ich denn mit der Zeit etwas beschränkt. Meine Frau läßt für die prachtvollen Apfelsinen bestens danken, wie sie bei ihrem Anblick gejauchzt hat, können Sie sich leicht denken.

Und nun für heute genug der Plauderei! Gott behüte Sie und schenke Ihnen volle Gesundheit und erhalte Ihnen Frische und Lust und Freude zu leben und zu streben. Leben Sie wohl und behalten Sie lieb

Ihren

treuen Freund und Gevatter

Osterwald.

Beendet d. 3 Mai 1852.

a gestr.: da; b gestr.: hatte; c gestr.: das; d gestr.: Ein

Brief Metadaten

ID
23798
Gattung
Brief ohne Umschlag
Entstehungsort
Entstehungsland aktuell
Deutschland
Entstehungsland zeitgenössisch
Königreich Preußen (Provinz Sachsen)
Datierung
03.05.1852
Sprache
Deutsch
Umfang Seiten
3
Umfang Blätter
2
Format
22,5 x 27,8 cm
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
A 23798
Zitiervorlage
Osterwald, Wilhelm an Haeckel, Ernst; Merseburg; 03.05.1852; https://haeckel-briefwechsel-projekt.uni-jena.de/de/document/b_23798