Wilhelm Osterwald an Ernst Haeckel, Merseburg, 4. April 1852

Mein lieber Ernst,

Ganz ohne Begleitschreiben kann ich das Zeugniß doch nicht lassen, aber ich bin von dem Semesterschluß, dem Censurenschreiben, dem Examen, der Abiturientenprüfung und leider auch von der Sorge um mein krankes „Minchen“ so abgespannt, daß ich Sie bitten muß mit dem vorlieb zu nehmen, was mir gerade in die Feder kommt. –

An dem Zeugniß werden hoffentlich Sie und Ihre lieben Eltern Ihre Freude haben. Wir haben nichts darin gesagt, was Sie nicht redlich verdient hätten, gebe nun Gott, daß Sie auch in Zukunft solche Zeugnisse sich verdienen und daß auch dann Ihren Verdiensten eine gleich bereitwillige und freudige Anerkennung gezollt wird. Die übrigen Zeugnisse sind – natürlich mit Ausnahme des von Sander, das ein bischen kahl gegen die andern aussieht, gleichfalls sehr gut und fast so gut wie das Ihrige. So konnte denn unser guter Prof. Wieck gestern (denn wir haben die Abiturienten dießmal schon am Examentage entlassen) wohl mit großer Befriedigung reden. Ich hätte wohl gewünscht, daß Sie seine Rede, die ihm sehr innig vom Herzen kam und gewiß auch in die Herzen gedrungen ist, mit angehört hätten. Nehmen Sie hier wenigst als schwachen Ersatz einen freilich nur dürren Auszug, wie ich ihn in meiner Abspannung niederzuschreiben im Stande bin. „So oft ich, sagte der treffliche Mann, Jünglinge mit dem Zeugniß der Reife von unserer Anstalt entlassen habe, habe ich in einer gehobenen und feierlichen Stimmung reden können, aber heute, ich darf es wohl sagen, rede ich mit Stolz, denn eine Elite von Jünglingen ist, die wir heute entlassen. Die Summe dessen, was wir an ihnen so hoch schätzen, läßt sich a in dem Wort zusammenfassen, daß sie treu gewesen sind. Sie haben treu die Mittel benutzt, die Ihnen Gott in ihrer Geburts- u. Familienstellung gegeben hat. In hochachtbaren und gebildeten Familien geboren haben sie die ersten Keime der Bildung von ihren Vätern empfangen, aber nicht von den Vätern allein, nein auch die Mütter sind es gewesen, edle, treffliche, sinnige und geistvolle Mütter, die ihren Sinn und ihr Herz mit Liebe gepflegt und geleitet haben. Und unsere Jünglinge haben auf die Stimme ihrer Väter u. Mütter gehört und sind ihnen gefolgt in Gehorsam u. Liebe. Dann, als sie zu uns gekommen sind, haben sie die Pietät, die sie || für Vater u. Mutter hegten, auf uns, ihre Lehrer übertragen. – Sie sind hier treu gewesen in der Ausbildung ihrer Talente. Sie haben ihr Pfund nicht vergraben. – So haben wir Lehrer denn an ihnen unser Amt mit Freuden thun können u. nicht mit Seufzen. Und so b können wir, unbesorgt darum, von diesen bescheidenen Jünglingen mißverstanden zu werden, sagen, daß sie unser Stolz sind, ja wir können sagen, daß diese Jünglinge, in dem wir ihnen diese glänzenden Zeugnisse ausstellen können, uns selbst ein Zeugniß ausstellen, indem sie den Beweis liefern, daß es nicht an der Kraft und Liebe der Lehrer dieser Anstalt liegt, wenn von Einzelnen nicht geleistet wird, was geleistet werden soll. Denn hier sind alle Forderungen der Schule erfüllt und von einigen ist mehr geleistet, als die Schule fordern kann. – Ich kann es mir nicht versagen, wenigstens aus einem Zeugniß eine Probe mitzutheilen. (Folgt der allgemeine Theil Ihres Zeugnisses aber ohne Nennung Ihres Namens). Ähnlich sind die übrigen. – So empfangen Sie die Zeugnisse, in denen die Prüfgskommission Sie für reif erklärt hat. Sie sollen nun ins Leben eintreten. Man hat Ihnen c schon bei der Confirmation von einem Eintritt ins Leben d gesagt, aber jetzt sollen Sie noch in ganz andrer Weise ins Leben treten, sollen selbständig leben lernen. Sie haben sich bisher als treu erwiesen, bleiben Sie treu, das ist es, was ihre Lehrer Ihnen beim Scheiden zurufen. Treu zuerst dem Evangelium, in ihm mögen Sie den ewigen Trost gegenüber allen Schwankungen der Zeit finden. Keine Idee ist tiefer als die Idee des Christenthums, öffnen Sie ihr alle Kammern ihres Herzens u. bewahren Sie dieselbe ihr Leben lang in Ihrem Innern. Treu ferner Ihrem Könige. Laßen Sie sich nicht irren durch Menschliches von den Menschen, auf Erden erscheint auch die Idee in Knechtsgestalt, aber die Idee bleibt, und wir klammern, müssen klammern alle unsre Hoffnungen || für unser gemeinsames Vaterland an Preußens Könige. Bleiben Sie treu ferner der Wissenschaft. Die beiden vorigen Puncte basiren auf dem Glauben, aber Sie sollen auch wissen. Lassen Sie ihr Wissen nicht durch den Glauben verdrängen u. so auch umgekehrt nicht. Glauben Sie vor Allem auch an die Wissenschaft selbst, glauben Sie im Wissen, wissen Sie im Glauben! Bleiben Sie endlich auch treu der Schule, die Sie gebildet hat. Bewahren Sie die Pietät, die Mutter aller Tugenden. Ich sage das nicht um unsert- sondern um Ihretwillen. Weh dem Menschen, der seiner Jugend nicht gern gedenkt. Und ich meine auch nicht bloß unsere Schule, sondern die Schule überhaupt. Die Liebe, die Achtung, die Sie anderwärts Lehrern u. Schulen erweisen u. bewahren, erweisen u. bewahren Sie uns! – In diesem Sinne bleiben Sie treu und so möge Gottes Geist Sie segnen u. behüten –

Ich weiß nichts hinzu zu setzen, lieber Ernst, es ist dies Alles auch aus meiner Seele geredet. Daß ich Ihre weitere Lebensbahn mit liebevollster Theilnahme verfolgen werde, – nun ich dächte, Sie müßten mich nun schon so weit kennen, daß ich dase kaum noch auszusprechen habe. Und so denke ich, wir werden im Leben uns auch ferner noch angehören und zusammenbleiben. Das Band zwischen Lehrer und Schüler, ist, wenn Alles ist, wie es sein soll, eben so wenig zu zerreißen, wie ein Familienband. –

Daß mein kleines Töchterchen krank geworden ist, schrieb ich ihnen oben. Sie hat uns ein paar Nächte hindurch recht in Sorge gehalten, wir fürchteten Masern oder || Scharlach – es scheint aber glücklich vorüberzugehen, die Drüsen hinter d. Ohre sind noch angeschwollen u. sie muß d. Bett noch hüten, ist aber schon wieder zu allerhand kleinen Schelmereien aufgelegt. Der f Schalttagsjunge ist noch nicht getauft u. die Taufe wird durch Minchens Krankheit nun noch über das Osterfest hinausgeschoben. Er soll Ernst heißen. Wären Sie während der Ferien hier gewesen, wie es ursprünglich den Anschein hatte, so würden Sie nolens volens haben Gevatter stehen müssen und wenn Sie sich gesträubt hätten wie Dr. Katzenberger. Sie aber von Berlin zu citiren wäre zu grausam. Weiss u. Zierhold sind nach Prima versetzt, Zierhold schwimmt in Wonne. Nächsten Mittwoch gehe ich mit Weiss nach Weissenfels um eine Scillaexcursion zu machen, vielleicht auch um bei Naumburg die geheimnißvolle Pflanze zu sehen, die Balder den Tod gebracht hat. Wissen Sie, welche das ist?

Masius Naturstudien sind nun bald fertig. Den Aufsatz „über Tanne, Föhre, Krummholz“ hat er zurückgeschickt. Er wünscht sehr Ihren neusten über d. ästh. Einfl. d. Pflanzenformationen pp. von dem ich ihm geschrieben habe. Darf ich ihn auf ein paar Wochen hinschicken?

Herzliche Grüße von mir u. meiner Frau an Ihre lieben Eltern! Daß Sie wieder gesund sind, hoffe u. wünsche ich von Herzen. Ich habe Sie recht bedauert. Leben Sie wohl u. bleiben Sie treu

auch Ihrem Osterwald.

a gestr.: da; b gestr.: haben wir; c gestr.: auch; d gestr.: gesp; e korr. aus: daß; f gestr.: Fastnachtsjunge

Brief Metadaten

ID
23797
Gattung
Brief ohne Umschlag
Entstehungsort
Entstehungsland aktuell
Deutschland
Entstehungsland zeitgenössisch
Königreich Preußen (Provinz Sachsen)
Datierung
04.04.1852
Sprache
Deutsch
Umfang Seiten
4
Umfang Blätter
2
Format
22,4 x 13,9 cm
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
A 23797
Zitiervorlage
Osterwald, Wilhelm an Haeckel, Ernst; Merseburg; 04.04.1852; https://haeckel-briefwechsel-projekt.uni-jena.de/de/document/b_23797