Wilhelm Ostwald an Ernst Haeckel, Grossbothen, 12. Januar 1914

WILHELM OSTWALD

GROSS-BOTHEN, KGR. SACHSEN

LANDHAUS ENERGIE

12.1.1914

Herrn Prof. Ernst Haeckel, Jena

Lieber und verehrter Herr Kollege

Herzlichen Dank für die kleine Erinnerung an unsere erste Begegnung vor drei Jahren, die sich inzwischen als so mannigfaltig anregend und fruchtbar bewährt hat. Ich muss bekennen,

dass ich, da ich nie ein Erinnerungsmensch gewesen bin, auch jedes Mal versäumt habe, an den Tag und die Stunde rückschauend zurückzudenken, trotzdem sie einen so grossen Einfluss auf meine innere und auch meine äussere Lebensgestaltung ausgeübt haben.

Auch heuer bin ich mit allen möglichen Dingen dauernd und unter starkem Druck in Anspruch genommen gewesen. Nicht nur waren wiederum Schwierigkeiten im Innern des Bundes zu überwinden, auch meine andern Angelegenheiten, insbesondere die Brükke gingen nicht, wie sie sollten, und beanspruchten ungewöhnlich starke Energieaufwendungen. || Dazu kam dann noch eine der fast unvermeidlichen Influenzaperioden, die ich eben durchgemacht und, wie ich hoffe, für diesen Winter endgültig abgeschlossen habe. Im übrigen lebe ich unter dem Eindruck, dass unsere monistische Angelegenheit immer noch, ja mehr als je mit schnellen Schritten aufwärts steigt und an Einfluss und Bedeutung täglich gewinnt. Die grosse Kirchenaustrittsbewegung, die gegenwärtig mit elementarer Wucht über Deutschland sich ausbreitet, stellt uns vor neue grosse Aufgaben und Verpflichtungen, denn es wird sich darum handeln, für all die von der Kirche nun auch äusserlich freigewordenen Menschen einen kurzgefassten, aber innerlich reichen Lebensinhalt und eine Führung zu beschaffen. In meinen Sonntagspredigten habe ich das seit bald drei Jahren zu tun versucht. Aber es wird wohl noch anderer Formulierungen und Formen bedürfen, um den neuen Ansprüchen zu genügen.

Höchst bemerkenswert ist zu sehen, wie vollkommen hilflos die Kirche sich gegenüber diesen neuen Erscheinungen gebärdet. Es ist nicht der geringste positive oder schöpferische Gedanke von jener Seite ausge-||sprochen worden, ja nicht einmal die Fähigkeit lässt sich erkennen, das bisher innegehabte zu verteidigen. So erleben Sie das seltene Glück, dass am Abend des Lebens Sie das Morgenrot derjenigen Zeit aufblühen sehen, deren Herbeiführung Sie Ihre ganze Lebensarbeit gewidmet haben.

Mit den herzlichsten Grüssen

Ihr ganz ergebener

W Ostwald

Brief Metadaten

ID
23775
Gattung
Brief ohne Umschlag
Entstehungsort
Entstehungsland aktuell
Deutschland
Entstehungsland zeitgenössisch
Deutsches Reich
Datierung
12.01.1914
Sprache
Deutsch
Umfang Seiten
3
Umfang Blätter
3
Format
16,0 x 22,5 cm
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 23775
Zitiervorlage
Ostwald, Wilhelm an Haeckel, Ernst; Grossbothen; 12.01.1914; https://haeckel-briefwechsel-projekt.uni-jena.de/de/document/b_23775