Ostwald, Wilhelm

Wilhelm Ostwald an Ernst Haeckel, Grossbothen, 23. Februar 1915

Grossbothen, 23.2.1915

Herrn Prof. Dr. Ernst Haeckel, Jena

Excellenz

Lieber und verehrter Freund

Ich habe absichtlich nach Ihrem Geburtstage einige Zeit verstreichen lassen, ehe ich meinem

telegraphischen Glückwunsch einen brieflichen folgen lasse, denn wenn auch der Ansturm von Glückwünschen wie er im vorigen Jahre sich über Sie ergossen hat, heuer nicht zu erwarten war, so ist doch der Kreis derer, die an diesem Tage an Sie denken so gross, dass der einzelne gefahr läuft, dass seine Stimme im Chor verschwindet. So spreche ich denn zunächst Ihnen gegenüber unseren allgemeinen Herzenswunsch aus, dass Sie mit zurückgekehrter Frische den Frieden erleben mögen, der doch wohl entsprechend den letzten Nachrichten vom östlichen Kriegsschauplatz in Summa erheblich zu unsern gunsten abschneiden wird. Ob freilich hierbei die Zerstörung der englischen Gewaltherrschaft über die ganze Welt endgiltig durchgeführt sein wird, ist mehr als zweifelhaft, vielmehr ist das Gegenteil überaus wahrscheinlich. Denn eine derartige durch Jahrhunderte festgesetzte Sachlage lässt sich nicht auf einmal verändern, und es wird die Aufgabe des 20. Jahrhunderts sein, die wahre Völkerfreiheit, die in einer organisatorischen Zusammenfassung sämtlicher Nationen liegt, gegenüber dem maritimen Zwang der englischen Weltherrschaft zu verwirklichen.

Mir persönlich ist es in der Zeit seit meinem letzten Brief an Sie nicht eben gut gegangen.

Das Alter hat sich bei mir plötzlich angemeldet und sich zunächst meiner Beine bemächtigt,

so dass ich monatelang keinen grösseren Spaziergang gemacht habe und während einiger

Wochen sogar meinen täglichen Rundgang durch mein Grundstück habe einstellen müssen. In den letzten Tagen begann es wieder besser zu gehen, und gleichzeitig hat meine geistige Beweglichkeit, die ebenfalls sehr stark abgenommen hat, sich ein wenig gebessert.

Ich war tatsächlich so arbeitsunfähig geworden, dass ich inzwischen die praktische Tätigkeit als Vorsitzender des Monistenbundes suspendiert hatte, die laufenden Geschäfte dem zweiten Vorsitzenden übergab und meinen näheren Freunden die Mitteilung machte, dass ich in der ersten Hauptversammlung nach dem Friedenschluss meinen Rücktritt vom Amt des ersten Vorsitzenden anzeigen würde. Hierzu hat mich, abgesehen von jenen physiologischen Motiven haupt- ||sächlich die Einsicht gebracht, dass es nicht gut für einen derartigen aus mannigfaltigen Elementen bestehenden Verein ist, wenn stets derselbe erste Vorsitzende am Ruder bleibt. Es ist unbedingt nötig, für den Fall, dass dieser durch den Tod oder durch dauernde Arbeitsunfähigkeit abzugeben gezwungen ist, jüngere Ersatzmannschaften

bereit sind, die nicht nur guten Willen, sondern Erfahrungen für die verantwortliche Tätigkeit mit bringen. Auch ist gegenwärtig das Amt einigermassen schwierig und strapaziös, weil die Köpfe ausserordentlich weit auseinandergehen. Während ich dem einen nicht patriotisch genug bin, gibt es grosse Gruppen sowie einzelne im Bunde, welche finden, dass wir uns bereits nicht mehr von einem gewöhnlichen Kriegerverein unterscheiden.

Namentlich die zahlreichen jüdischen Mitglieder, bei denen ja internationale Tendenzen im Vordergrunde stehen und denen es stets beim Aufflammen nationaler Stimmungen ungemütlich wird, beschweren sich über allzu starken Patriotismus. Demgegenüber ist es

natürlich das beste, weder das eine Extrem noch das andere zur Geltung kommen zu lassen

und die aufgeregten Gemüter tunlichst auf die Erledigung ihrer Meinungsverschiedenheiten

nach Friedensschluss zu verweisen. In solchem Sinne wird demnächst im M. J. Rede und Gegenrede von Borngräber und mir erscheinen.

Was den Kampf der Pfaffen gegen mich anlangt, so macht sich mein Sohn Walter, den Sie gelegentlich gesehen haben, jetzt das Vergnügen, die gerichtlich strafbaren Beschimpfungen,

welche der Geheime Kirchenrat Rendtorff gegen mich hat drucken lassen, dazu zu benutzen, diesem Herrn zu einer öffentlichen Entschuldigung zu zwingen und ihm jedenfalls einige Wochen recht unbehaglichen Zustandes zu bereiten. Ich habe als Bedingung für den Verzicht auf eine Klage meinerseits die gestellt, dass er 1000 Mark für den Kriegsunterstützungsfond des D.M.B. zahlen soll, was ihm natürlich besonders schwer fällt.

Andernfalls wäre für einen geheimen Kirchenrat, Professor und Senator der Universität Leipzig eine gerichtliche Verurteilung wegen verleumderischer Beleidigung doch ein etwas

zu harter Kloss. Mich emotioniert die ganze Angelegenheit weiter nicht, und mein Sohn betreibt sie als eine Art von juristischem Sport.

In der Hoffnung, von Ihnen etwas erfreulichere Nachrichten zu erhalten, als Ihr letzter Brief enthielt, bin ich in alter Verehrung

Ihr ganz ergebener

W Ostwald

 

Letter metadata

Verfasser
Empfänger
Datierung
23.02.1915
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 23747
ID
23747