Finsterbusch, Ludwig

Ludwig Finsterbusch an Ernst Haeckel, Mülheim an der Ruhr, 12. Februar 1912

Mülheim-Ruhr, 12.II.12.

Lieber Ernst!

Ehe die Flut der Glückwünsche zum 16. d. Dich ganz in Anspruch nimmt, will ich Dir meinen Glückwunsch zusenden. Du trittst nun ins 79., ich bald ins 82. Jahr, da möchte ich Dir ein fröhliches „Glückauf!“ zurufen. Wer hätte gedacht, daß wir so alt würden! Und doch möchte man gern noch älter werden, um zu erleben, wie sich die Geschicke unsres deutschen Vaterlandes weiterhin gestalten werden. Als Optimist sehe ich in die Zukunft. Doch genug hiervon. Als alter Jugendfreund trete ich vor Dich hin. Vor 10 Jahren trafen wir zum letzten Mal in Düsseldorf zusammen. Mittlerweile hast Du nun auch Dein Amt niedergelegt; hast noch viele Anfechtungen ertragen; aber noch mehr Anerkennung || gefunden; hast auch zur Abwechselung einmal ein Bein gebrochen, so daß Du nicht radeln, nicht Ski betreiben kannst; das hast Du glücklicherweise an der hinteren Pforte der alten Wohnung in Merseburg als Schüler gehörig betrieben; hast die Welt bereist, die Tropen bewundern können. Gerade lese ich Ebhardtʼs „Von indischen Tagen u. Nächten“. Die letzten Kapitel spielen in Buiten zorg an der wackligen Hinterwand des Hotels Bellevue, von wo man den fünf-gipfeligen „Gunong Salak“ sieht u. den Gamelon, das Orchester der Javaner ohne Rhythmus u. ohne Melodie, hört, den vollendetsten Zusammenklang von Stimmen u. Tönen, unvergeßlich, wie der Verfasser behauptet. –

Vor genau 50 Jahren (1862) gabst Du die erste Mono- | graphie der Radiolarien heraus. In demselben Jahre hattest Du Hochzeit mit Deiner geliebten Cousine Anna, ebenso ich mit meiner Hermine, sodaß wir beide im heurigen Jahre beide goldene Hochzeit feiern könnten, wenn…! Dank Dir für Mitteilung Deiner Familienangelegenheiten, der Sohn in München, die Tochter in Leipzig, die jüngste zu Hause; die beiden habe ich nur einmal (1873) in Jena gesehen. Mein ältester, den Du in Mülheim bei einer von mir verabreichten Ohrfeige tröstetest mit der lachenden Bemerkung (lapsus linguae, denn die Bemerkung lachte nicht): habe ich oft von meinem Bruder Karl bekommen, Ernst also ist 1½ Stunde dicht bei Oberhausen, der zweite von meiner Anna, ist seit 1908 in Buenos-Aires, fabriziert flüssige Luft u. Sauerstoff, seit vorigem Jahr (1910) verheiratet mit einer westfälischen Tochter; Helene in Kiel mit Bauinspektor Meyer, hat einen Prachtjungen (Jens heißt er), den sie selber 6 Monate an ihrer Brust genährt hat, die jüngere (Mally), aber schon 33 Jahre alt, unser Singvogel u. Sonnenschein, Musiklehrerin – hast Du vielleicht || einen passenden Mann für sie in petto? – Meine Anna, jetzt 68 Jahre alt, hat öfters mit dem Herzen zu tun, auch mit Rheumatismus, war in Nauheim, vor 2 Jahren in Orb (bei Gelnhausen) sehr zu empfehlen wegen Ruhe, herrlicher Luft u.s.w. Du siehst, das Alter macht geschwätzig, schadet auch nichts, da jüngere Leute auch zu Worte kommen wollen. Habe gestern auf der Leiter stehend unsere Veranda beschnitten, lebe aber nur zu Hause u. im Garten, da ich nicht weit gehen kann; sehe wöchentlich die beiden Enkel, Obertertianer und Quartaner, treffliche Schüler, die des Vaters Nachhülfe nicht bedürfen, ein Glück, da dieser mit seinem Amte in großer Gemeinde reichlich zu tun hat. Nun, alter Junge – Donnerwetter – Du bist ja Excellenz! Entschuldige tausendmal! Ich habe es nur zum roten Adler vierter Güte gebracht, wird aber bei Sankt Petrus ja auch ausreichen; schwelge zu Deinem Wiegenfeste in herrlichen Erinnerungen, liebes Kameel; – grüße Frau u. Tochter! u. recht viele Grüße von Anna u. Deinem

alten Freunde Ludwig. –

Seit 50 Jahren in Jena, einmal unseren Bismarck zu Gaste gehabt habend! Du klagst übers Gedächtnis, ja wo sollen alle Erinnerungen in Deinem Schädel Platz finden?a

a Text weiter am linken Seitenrand, quer zur Schreibrichtung: Seit 50 Jahren … Platz finden?

 

Letter metadata

Empfänger
Datierung
12.02.1912
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 2369
ID
2369