Finsterbusch, Ludwig

Ludwig Finsterbusch an Ernst Haeckel, Mülheim an der Ruhr, 18. Dezember 1910

Mülheim-Ruhr, den 18.12.10

Lieber Ernst!

Herzlichen Dank für das Sandalion! u. besonders dafür, daß Du in all den Aufregungen an mich gedacht hast. Vor einigen Wochen hatten wir Besuch aus dem Ravensburger Land, der erzählte uns mit triumphierender Stimme, daß Haeckel abgetan sei, wissenschaftlich vernichtet. In aller Ruhe u. unter Lachen erklärte ich ihm, er scheine von Haeckelʼs Werken keine Ahnung zu haben, sonst würde er sicher sich hüten, so etwas zu behaupten, aus Sorge, daß er sich blamiere. Deine Errungenschaften in der Wissenschaft seien so enorm etc. etc. Solche Behauptungen wären nur vom orthodoxen Kirchenglauben aus überhaupt erklärlich. Na, lieb Vaterland, kannst ruhig sein. – || Daß Du den Keplerbund ad absurdum führst, ist wohlgetan. – Aber eins mußt Du Dir aus dem Kopfe schlagen, nämlich daß der Monismus für die große Menge die kirchliche Symbolik, besonders den Kultus in nächster Zeit ersetzen könnte. Dazu ist das Volk noch nicht reif, u. andererseits hat noch kein Monist es verstanden, eine Verehrung des höchsten Wesens aufzustellen, die das Gemüt des unglücklichen, leidenden, mühseligen u. beladenen Menschenkindes beruhigte, erquickte, befriedigte.

Es wird kommen, aber es muß ein Heros erstehen, der diese Aufgabe lösen kann. || Einstweilen wird schon seit 70 Jahren diese Wendung vorbereitet, u. es wird schon viel erreicht heißen, wenn nur wieder wir Schleiermacher Christen heißen, nicht nach seiner Dogmatik, wohl aber nach seiner Duldsamkeit u. seiner Gemütswärme. – Dein Austritt aus der Kirche ist mir erklärlich, aber hoffe auch hierin nicht auf Erfolge, die Du noch erlebst. – Für Deine spätere Beurteilung ist sie gut, damit man nicht sagen kann, Du habest wie Galilei widerrufen. – Aber wie viel zu leisten ist, um das zu erreichen, was Du willst, kannst Du lesen in der Geschichte des Materialismus von Hartmann aus dem Jahre 1866. ||

Ich mußte in diesen Tagen daran denken, wie Dein Vater in der Domkirche auf dem obern Chor der Kanzel gegenüber saß derweil Oberstabsarzt Dr. Schwarz unten in der Kirche aufrecht stand; ferner wie wir Sonntags abends in Eurem Wohnzimmer mit am Theetisch saßen u. den Gesprächen der Erwachsenen lauschten. Was ist wohl aus dem Sohn von Karo geworden? Oh, wir haben doch eine schöne Jugend verlebt, wenn auch viele Lehrer in den unteren Klassen uns wenig geboten haben. Aber Wieck, Hiecke, Gandtner, Osterwald alle Achtung! – Diesen Sommer hatten wir 2 Hochzeiten, Helene mit Bauinspektor Karl Meyer in Kiel u. unser Ludwig, der am 17. November mit seiner jungen Frau abgefahren ist nach Buenos-Aires. Meine Frau u. ich befinden uns wohl, obwohl oft von Rheumatismus geplagt.

Nun herzliche Grüße von uns u. frohes Weihnachtsfest mit den Deinigen.

Dein treuer Jugendfreund L. F.a

a Text weiter am linken Seitrenrand, quer zur Schreibrichtung: Nun herzl. … Jugendfreund L. F.

 

Letter metadata

Empfänger
Datierung
18.12.1910
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 2368
ID
2368