Hein, Helene

Helene Hein an Ernst Haeckel, Danzig, 18. November 1883

Hochgeehrter Herr Professor!

Seit lange mahnt es mich, daß ich Ihnen noch eine Antwort auf Ihren gütigen Brief schulde, den Sie so freundlich waren, vor einigen Monaten an mich zu richten. Sie, geehrter Herr Professor, sprachen damals in so wohlwollender Weise Ihr Interesse aus für meinen Sohn, der auf der Hinreise nach Zürich verhindert gewesen, Sie zu besuchen um sich Ihnen als Sohn Ihres verstorbenen Freundes vorzustellen.

Auch auf der Rückreise hätte er diesen Zweck nur erreichen können, wenn er einen weiten Umweg gemacht hätte; u. da trieb ihn die Sehnsucht zu sehr ins Elternhaus das er in seinen Ferien nicht schnell genug erreichen konnte.

Gestatten Sie, hochverehrter Herr Professor, || daß ich Ihnen, mich auf Ihre uns so wohlthuende Theilnahme berufend, hierüber so wie über unser sonstiges Ergehen einige Mittheilung mache.

Walther ist ein halbes Jahr in Zürich gewesen u. hat verschiedene Collegien am Polytechnikum fleißig besucht. Dr. Schuler, ein sehr lieber, intimer Freund meines Mannes, der meinem Manne schon in frühesten Zeiten das Versprechen abnahm, Walther nach Zürich zum Studium zu schicken, besuchte ihna 2–3 mal auf seinen Inspections-Reisen dahin , u. nahm sich seiner freundschaftlichst an, konnte ihn indessen nicht überreden, länger dort zu bleiben.

Walther sehnte sich zu sehr nach Hause, ich glaube, er wäre krank geworden.

Der Schmerz in seiner ganzen Größe um den Verlust seines Vaters trat erst dort so recht vor seine Seele – in der Ferne, unter fremden Menschen; er hatte keinen Rathgeber, die nur noch wenigen Seinen so fern, ein Brief in 2–3 Tagen erreichbar.

Er selbst hatteb mir seine Trauer u. sein Bangen vorenthalten, aber Hr. Dr. Schuler schrieb mir davon. ||

Abgesehen davon hat sich aber nach den vielfachsten Erkundigungen herausgestellt, daß das Berliner Polytechnikum das großartigste, das beste in ganz Deutschland sei, auch viel höher stehe, wie das in Zürich; u. da war ja kein Zweifel mehr, daß W’s Wunsch in Erfüllung ging u. er nachdem er die Ferien wohl ausgenutzt, im Interesse seines Berufs, schließlich hauptsächlich hier bei mir zugebracht.

Und seitdem gestehe ichs nur offen, bin auch ich wieder ruhiger, es ist, als wenn eine Heilung der Gemüther allmählig einzutreten scheint; der Schmerz wird linder u. wehmüthiger, u. der Muth zur Aufgabe unsers Daseins hebt sich.

Mein Sohn ist mir u. meinen Töchtern jetztc näher, er kann uns (in den Ferien) innerhalb 10 Stunden erreichen – u. dieses Gefühl u. Bewußtsein ist uns unendlich werth.

Walther gefällt sich sehr in seinem Studium, schwärmt für Mathematik u.s.w. u. ist fleißig. Will’s Gott, kommt er zu Weihnachten her!

Im Übrigen habe ich mich in so weit arrangirt, daß ich im Hause wohnen geblieben bin u. es nicht verkauft habe; so lange es irgend möglich ist, will ich den Kindern ihr Elternhaus erhalten, es ist auch ihr großer Wunsch. Es knüpfen sich freilich manche Sorgen daran, || die Reparaturen, die Winther u.s.w. u.s.w. Aber ich habe ja wieder Muth u. will soviel ich kann für das Glück u. die Zufriedenheit meiner Kinder sorgen.

Leider ist mein treuester Rathgeber, meines Mannes letzter Bruder sehr leidend am Herzen u. sehen wir mit Angst u. großer Sorge auf ihn, können nur mit Vorbehalt ihn um Rath fragen. Dr. Lissaner unser aller Hausarzt sagt, sein Leidend wäre sehr seit vorigem Jahre vorgeschritten u. recht bedenklich, dabei hat er Gott sei Dank nicht viel zu leiden.

Aber eine andere Trennung steht uns wieder bevor; mein alter 81jähriger Papa, unser langjähriges ältestes, theures Familienhaupt, den auch mein lieber Reinold so lieb gehabt u. so hoch gehalten, ist seit 5 Wochen leidend, u. jetzt schon so schwach, daß der Arzt uns auf sein Ende vorbereitet.

So verläßt uns Einer nach dem Andern, u. beugt auch mich – die ich kaum aufathme, dieses wieder recht tief danieder.

Wie geistig klar war er noch, wie er e meinem Walther, seinem einzigen Großsohn, ehe dieser jetzt nach Berlin ging, Rathschläge ertheilte, wie hat er von dessen, früher Jugend mit Reinold zusammen Walthers Studium überwacht! Als Schulmann (Gymnasial-Direktor) interessirte ihn dies Alles doppelt! Und geistig klar ist er auch noch, aber so schwach! Sein großer Wunsch ist, meinen Sohn noch Weihnachten hier zu haben, davon spricht, davon träumt er. Das kann wohl nicht mehr geschehen!

Und nun, hochgeehrter Herr Professor || verzeihen sie gütigst, daß ich so plötzlich abbreche, ich habe ohnehin Ihre kostbare Zeit schon zu sehr in Anspruch genommen.

Meine beiden Mädel sind Gottlob! wohl, nachdem die kleine Ada im Sommer eine recht unangenehme Malarja glücklich überwunden!

Mich Ihnen u. unbekannter Weise Ihrer Frau Gemahlin empfehlend

hochachtungsvoll

Helene Hein

geb. Lehmann.

P.S. Die Zeitungen mit den Berichten über meinen lieben, verstorbenen Reinold bitte ich freundlichst zu behalten.

Danzig d. 18. November 1883.

a eingef.: ihn; b korr. aus: hat; c eingef.: jetzt; d gestr.: Zustand; eingef.: Leiden; e gestr.: mit

 

Letter metadata

Verfasser
Empfänger
Datierung
18.11.1883
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
A 23521
ID
23521