Finsterbusch, Ludwig

Ludwig Finsterbusch an Ernst Haeckel, Mülheim an der Ruhr, 17. Februar 1889

Mülheim a /Ruhr, den 17. Febr. 89.

Mein lieber alter Jugendfreund!

Erst heute habe ich Deinen Brief erhalten, weil er durch die Bezeichnung Mülheim a. R. nach Mülheim am Rhein gegangen war, wo „auch durch Rückfrage bei den polizeilichen Anmeldestellen der Empfänger nicht zu ermitteln gewesen ist“. Das ist schon mehrfach passiert, aber diesmal hat mich diese Verzögerung verhindert am Freitag nachmittag 3 Uhr mich im Geiste an das Grab der theuren Entschlafenen zu versetzen und ihr einen letzten Gruß der Verehrung und ich möchte sagen kindlichen Anhänglichkeit zu schicken. Ein Leben von 90 Jahren liegt abgeschlossen, wahrhaftig ein großer Segen. Ich sah sie zuletzt bei Dir in Jena, als wir vom Merseburger 300jährigen Jubiläum des Gymnasiums zurückkehrten, und damals war sie für ihr Alter noch recht frisch. So ist ihr Gedenken bei mir nicht durch die Gebrechen des Alters getrübt; a | sie steht vor meinem inneren Auge als kräftige, gesunde, körperlich und geistig normale, bedeutende und liebenswürdige Frau. Als Quintaner habe ich sie zuerst gesehen, als sie mithin 46 Jahre alt war; und ich kannʼs mir noch vorstellen, als wenn es gestern gewesen wäre, wie sie in Merseburg auf der Hütte in ihrem großen Zimmer auf ihrem Sessel am Fenster saß, oder des Sonntags Abends im Sopha neben Deinem Vater b am Theetisch, oder wie sie aus Ihrem Zimmer in die Thür von Deinem Zimmer trat, wenn wir Jungens zu laut wurden oder wenn sie uns ein Vesperbrod mit „Apfelkraut“ dedizierte, oder den langen Korridor hinten nach der entfernten Küche würdevoll schritt. Nachdem ich später Wahrheit und Dichtung gelesen hatte, habe ich mir stets Goethes Mutter, c die Frau Räthin unter dem Bilde Deiner so sehr verehrten Mutter || vorgestellt. Dazu kam ja, daß neben dieser olympischen Ruhe, die sie trotz ihrer großartigen geistigen Regsamkeit besaß, d die etwas abgebrochene Redeweise, das helle Lachen und gelegentliche Poltern Deines Vaters mich ebenfalls an den alten Rath Goethe erinnerte. Denn so liebenswürdig er einen anreden und anlächeln konnte, so hatten wir doch einen Heidenrespekt vor ihm, obgleich der vor Deiner Mutter eigentlich tiefer im Herzen saß.

Ich danke Dir für den Händedruck, Du lieber Ernst. Ich fühle mit Dir und theile den Schmerz, den Du besonders dadurch hast ertragen müssen, daß die liebe, gute Mutter noch so viel hat leiden müssen. Es gehört die Wahrnehmung, daß ein solches Alter so selten einem ungetrübten, verklärten Lebensabend gleicht, unter die Erfahrungen, welche uns den vollen Genuß des Lebens verkümmern. Mich erfüllt wenigstens dieser Anblick mit größerem Schmerze, als wenn || ich ein großes vorübergehendes Leiden, ein großes Mißgeschick, einen ungeheuren Verlust eintreten sehe. Wie schade, daß ich nicht nahe genug wohne um auf ein Stündchen bei Dir vorzusprechen, auf daß Du mir von ihr erzähltest, wie sie gestorben ist, was Du ihr noch hast sein können u.s.w. u.s.w. Du hast Recht, ich muß wieder einmal bei Dir einkehren, es wird sich ja wohl einmal die Gelegenheit dazu finden, denn Jahr geht hin auf Jahr, und ehe wirs uns vermuthen, rücken wir auch in die Jahre des Alters hinein, wo man schließlich schwerfälliger wird und sich nicht mehr besucht. Ich richte meinen Brief nach Jena, weil ich annehme, daß Du wieder bei Deiner lieben Fraue und unter Deinen Kindern sitzest. Grüße Sie herzlich von mir, auch von meiner Frau, freilich nur unbekannter Weise. Dein Sohn muß auch allmählich vor oder im Abiturientenexamen stehen, nicht wahr? Mein Ernst hat im vorigen Sommer in Tübingen, diesen Winter in Halle studiert u. wohnt mit Otto Gruhl, dem Sohn von Hieckes Luischen auf einer Bude. Ostern wollen sie aber getrennte Buden beziehen. Grüße gelegentlich Deinen Bruder. Uns geht es ebenfalls gut. In treuer alter Liebe

Dein Ludwig Finsterbusch

Als ich das Datum ansehe, fällt mir ein, daß Du gestern (16.) Deinen Geburtstag hattest; jetzt durch einen 2. Fall für Dich ein Gedenktag. Herzlichen Glückwunsch, mein lieber Jugendfreund. –f

a gestr.: ich; b gestr.: im Sop; c gestr.: die Ra; d gestr.: das; e gestr.: Liebe; eingef.: Frau; f weiter am linken Rand, quer zur Schreibrichtung: Als ich … lieber Jungendfreund. –

 

Letter metadata

Empfänger
Datierung
17.02.1889
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 2343
ID
2343