Ludwig Finsterbusch an Ernst Haeckel, Halle, 4. März 1855

Halle am 4. März 1855.

Mein geliebter Ernst!

Wenn ich aufrichtig sein soll, so muß ich gestehen, daß Deine Einladung, die hoffentlich der älterlichen Autorisation als Basis nicht entbehrt, einem stillen und frommen Wunsche meinerseits entgegenkommt. Zwar führt mich der directe Weg über Magdeburg, indeß brenne ich von dem Verlangen, eine große Stadt wie Berlin einmal zu sehen, zumal der Umweg nicht bedeutend ist, während meines Aufenthaltes in Roggow aber sich andere Punkte zum Besuch darbieten, wie Greifswalde, Lübeck, vielleicht Hamburg, endlich auf meiner Rückreise mein Sinnen u. Trachten auf andere Dinge gerichtet ist, als auf Berlin, ich meine das Examen etc. etc. Kurzum ich bin so frei, auf Deine Einladung einzugehen, zumal ich auch bei dem Rechnungsrathe Geiling, dessen Frau eine Schwester von meinem Onkel Heine ist, einige Zeit werde zubringen können, um nicht Deinen lieben Eltern so lange zur Last zu fallen. Leider kann ich nicht zu der von Dir gewünschten Zeit erscheinen, und somit kann es überhaupt noch fraglich sein, ob aus dem ganzen Project etwas wird. Ich werde den 14. April, also Sonnabend nach Ostern in Roggow eintreffen, u. muß den Freitag mithin von Berlin abreisen. Mithin böten || sich, da ich den Montag als 2. Feiertage nicht reisen kann, der Dienstag also der 3. Feiertag oder der Sonnabend als der Heiligabend als passende Tage an. Ich mag mich vorläufig für keinen Tag entscheiden, da ich die Bestimmung dieser Zeit, die Du möglicherweise getroffen haben kannst, durchaus nicht beeinträchtigen möchte. a Würdest Du nicht wieder an mich schreiben, so würde ich den Sonnabend kommen, da ich aufrichtig gestanden, das Osterfest in Berlin verleben möchte, um einige Kirchen besuchen, u. die Physiognomie Berlins zu Festzeiten anschauen zu können. Entschuldige, daß ich gegen alle Anstandsregeln meine Bitte so präcis formulire; ich gebe Dir dafür die unbeschränkteste Freiheit, mich aus Berlin auszuweisen, sobald es Dir gefällt, da es nichts schaden würde, wenn ich ein Paar Tage eher in Roggow eintreffen würde.

Was du über die Mangelhaftigkeit des brieflichen Verkehrs sagst, dem stimme ich vollkommen bei, u. habe noch hinzuzusetzen, daß wenn ich durch eine solche b alle meine Pläne, meine Ideen fixirt hätte, wie es doch unter intimen Freunden geschehen muß, ich mich über dieses bunte, unklare Gewirr nicht nur vor andern, sondern vor mir selbst schämen würde. Das hat in meinem Innern || während der akademischen Zeit gekocht und gegohren von wechselnden Ansichten, Ideen, Plänen; ich habe während dieser Zeit, in welcher ich, nicht ohne meine Schuld, der unterstützenden Hülfe älterer u. einsichtsvoller, wohlmeinender Personen ermangelte, so grundverschiedene Ansätze genommen, so erstaunliche Umwege eingeschlagen, um zu einer dauernden und wahrhaften Befriedigung zu kommen, daß ich erst jetzt in der Zeit meines Scheidens von der Academie dazu gelangt zu sein glaube, daß ich bestimmte und scharfe Grenzlinien für meine Ansichten gezogen und das Gebiet gefunden habe, welches meine Lebensthätigkeit in Anspruch nehmen soll. Wesentlich hat auch die Übernahme der Hauslehrerstelle, welches übrigens zufällig genug (wenn es Zufall giebt) geschehen ist, beigetragen mein verwirrtes Umhertasten schnell zur Abklärung zu bringen. In dieser Beziehung werde ich Dir vielerlei mitzutheilen haben, wie auch Du mir versprichst.

Es freut mich von Deiner Gesundheit das Beste zu hören; ich kann Dir meinen Zustand als den erfreulichsten bezeichnen. Das Gelenk bleibt allerdings im status quo, die Kraft des Fußes hat c aber in der erfreulichsten Weise zugenommen.

Die großväterliche Warnung vor der jungen Engländerin macht Deinen medicinischen Studien nicht viel Ehre, || da Du dabei vergessen hast, daß ich lahm bin. Wie also das Herz dieser stolzen Amazone aufschleußen? Vielleicht weißt Du dafür Rath, d den ich mit willigen Ohren anhören würde.

Auch ich habe mit den Merseburgern auf hiesiger Universität intimen Herzensverkehr so gut wie keinen gehabt; sondern mit Freunden, vorzüglich mit zwei, Ernst v. Möller aus Marienwerder, einem Juristen, und Archleb aus Schweidnitz, der bereits 3 Jahre katholische Theologie studiert hatte, jetzt aber Protestant ist u. Geschichte studirt; dazu kommt dann ein Süd-amerikaner aus Venezuela (Karakas), zu dem natürlich das Verhältniß nur den Charakter der Bekanntschaft trägt. Du sagst, die Naturwissenschaft verbindet ihree Jünger aufs engste. Das kann ich von der Philologie nicht sagen, die in dieser Beziehung das ungemüthlichste Studium ist, das es geben kann. Ein jeder makelt am andern, u. macht es sich zur Aufgabe, dem andern seine Ansicht wegzudisputiren. Der Stoff der Philologie ist zum großen Theil der Art, daß der Student ihn als äußerlichen ansieht, an dem er seine Fechterhiebe probirt, ohne eine erquicken Wirkung auf das innerste Gemüthsleben zu spürenf; oder wenn dis [!] geschieht, so ist sie von den modernen Religion- Staats- u. gesellschaftlicheng Ideen so sehrh entfernt, daß er, aber jeder in seiner Weise, einseitig wird.

Meinen besten Dank für die Gratulation u. Einladung. Viele Grüße an Deine lieben Eltern.

Dein Ludwig.

a gestr.: Dann; b gestr.: , wie; c gestr.: sich; d gestr.: denn; e korr. aus: den; f gestr.: auszuüben; eingef.: zu spüren; g korr. aus: Gesellschaftlichen; h eingef.: so sehr

Brief Metadaten

ID
2316
Gattung
Brief ohne Umschlag
Entstehungsort
Entstehungsland aktuell
Deutschland
Entstehungsland zeitgenössisch
Preußische Provinz Sachsen
Datierung
04.03.1855
Sprache
Deutsch
Umfang Seiten
4
Umfang Blätter
2
Format
12,6 x 19,6 cm
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 2316
Zitiervorlage
Finsterbusch, Ludwig an Haeckel, Ernst; Halle; 04.03.1855; https://haeckel-briefwechsel-projekt.uni-jena.de/de/document/b_2316