Finsterbusch, Ludwig

Ludwig Finsterbusch an Ernst Haeckel, Halle, 30. November 1852

Halle, den 30. November 1852.

Theuerster Freund!

Was wirst und musst Du wohl von mir denken, daß ich Dich so lange auf einen Brief warten lasse? Scheint es doch, als wenn ich gar nicht an dich dächte. Du bist in Halle gewesen, hast eine Nacht da zugebracht, und ich habe Dich nicht gesehen. Wenn ich es mir recht überlege, weiß ich nicht, wem ich die Schuld geben soll, meinem bösen Schicksal oder mir selbst. Denselben Tag bin ich bei Victor Weber et comp., sehe mit eignen Augen der Ausführung des Wandgemäldes zum Willkomm zu, und doch habe ich Dich nicht gesehen. Ich bringe gar keine Entschuldigung, da der Streich mich eben so viel hat einbüßen lassen, als Dich. Am andern Morgen in aller Frühe kommt Weber zu mir, ich freue mich schon, daß er mich abholen will, daß Du eben angekommen bist. Nein, er ist schon wieder abgereist. Meinen Ärger kann ich Dir nicht beschreiben. Was half aber der Ärger, es ließ sich nicht mehr gut machen, was ich versäumt hatte.

Du hast mir fünf Thaler hinterlassen; Lieber Ernst! Tausend Mal Dank. Vorzüglich, da Du selbst so viel Kosten bei Deiner Übersiedelung nach Würzburg hast, und Deine lieben Eltern durch Familienangelegenheiten viele außerordentliche Ausgaben bestreiten müssen. Nochmals daher vielen Dank! Du hast mir nämlich zur Erfüllung eines Wunsches verholfen, den mir in denselben Tagen ein böses Schicksal vereitelt hätte. Lange schon hatte ich nämlich nach dem Pape als dem unentbehrlichsten Hülfsmittel getrachtet. Auch hatte ich Aussicht die Ausgabe bestreiten zu können, wenn ich den Freitisch, wie ich hoffte, erhielt. Durch einen bösen Zufall aber war ich bei dem Übertritt in die philosophische Facultät nicht in das specielle || Album derselben eingetragen worden, und hatte somit von derselben nicht als Mitglied derselben angesehen, also auch nicht mit dem Freitische bedacht werden können. Meinen Schreck kannst Du Dir denken. Da ich nun durch die nöthigen Schritte endlich noch den halben Tisch erhalten habe, so muß ich zwar das zum Pape bestimmte Geld zur anderen Hälfte des Tisches verwenden, aber durch Dein Geschenk bin ich eben trotzdem in den Stand gesetzt, mir das ersehnte Werk anschaffen zu können. Sage doch Deinen lieben Eltern den wärmsten Dank von mir.

Lieber Ernst! Wenn ich manchmal an die vergangenen Zeiten zurück denke, die wir zusammen erlebten, so suche ich Deine lieben Briefe hervor, und durchlese sie. Da schreibst Du unter anderm auch, (es wird bald Jahresfrist sein): „Hoffentlich wird der saure Examenberg nun bald – in 14 Tagen vielleicht – überstiegen sein, und dann, welche selige Zeit!!“ Hast Du die selige Zeit gefunden und wirklich empfunden? Oder kommt es Dir vor, als ob doch eigentlich nicht in Erfüllung gegangen, was Du gewünscht u. gehofft? Die Frage kann Dich überraschen. Allein ich kenne es aus Erfahrung; auch hast Du es schon empfunden, aber von einer anderen Seite her; durch die Vereitelung Deiner Jenaer Expedition. Von einer anderen Seite aber vermuthe ich es jetzt, da Du nicht nur von Eltern, denn das warst Du schon einmal, sondern auch aus der Mitte aller Bekannten geschieden bist. Du bist Deinem ganzen Gemüthsbau nach nicht so zur Melancholie geneigt, wie ich; und ich kann mich täuschen. Auch schützt Dich Deine Wissenschaft vor jedem kränklichen, süßlichen Zustande, in welchem man sich leicht so sehr gefällt, und sonderbar genug, mit Wollust sein Leben sich versauert und so recht ungenutzt dahinschleichen lässt. Ich war darin so recht versunken in dem Streben nach einem befriedigenden religiösen Standpunkte und nach Ruhe für mein zerstörtes Gemüth. Davor bist Du gesichert durch die lautere Freude an der wahren Natur, davor bin auch ich jetzt hinlänglich geschützt. Trotzdem kannst Du einem ähnlichen Zustande ausgesetzt sein. Die Wissenschaft befriedigt nämlich nur den Verstand, das heißt unmittelbar, das Gemüth u. den Willen nur mittelbar. Beides aber will auch seine directe Befriedigung, u. diese ist nur möglich im Umgange mit Bekannten, mit Freunden, u. vorzugsweise mit solchen, die man zuvor nicht kannte. Indem man mit solchen seine || Ideen austauscht, nach ihnen seine Studien, die sonst immer ein einseitiges Gepräge haben, einrichtet, verändert, vervollkommnet, mit ihnen endlich auch sich Vergnügungen erlaubt, ohne Geldverschwenden und der Sittlichkeit nahe treten zu müssen: erhält man einen weitern Blick, als die Wissenschaft specielle in giebt, bekommt man von dieser selbst neue Ansichten, die das Studium weit angenehmer a und zugleich erfolgreicher machen, erhält endlich das Leben die nöthige Abwechselung, der Einzelne manche Blicke in das Treiben der Welt, die gar nicht zu verargen sind, und eigentlich den Charakter bilden. b So erst bin ich es mir bewusst geworden, daß ich auf der Schule eine falsche Ansicht vom Studium hatte. Das Hineinversenken in die Wissenschaft, das sieht man als die Spitze des Studiums an, und in gewisser Beziehung mit Recht. Nur verwechsele man es nicht, und das geschieht so leicht, und dann mit Nachtheil, mit dem Darin Versunken bleiben. Nein, man muß sich auch ein Gebiet für das Handeln gewinnen, man muß niemals die Aussicht verlieren auf die Aufgaben des Lebens, die an uns als Glieder des menschlichen Geschlechtes gerichtet werden. Wir müssen nicht nur mittelbar durch die Wissenschaft c in das Leben eingreifen wollen, sondern uns stets d nebenher direct mit der Gegenwart in Verbindung setzen, und das geht auf Universitäten durch Bekanntschaften, Freundschaften uns früher Unbekannter. Du hast das Glück, keine alten Bekannten um Dich zu haben, und in Deiner einsamen Lage förmlich gezwungen zu sein, als einziges aber auch radicales Mittel gegen jede kränkelnde Stimmung Neue Bekanntschaften anzuknüpfen. Suche ja solche anzuknüpfen, theuerster Freund, laß es Dir Mühe kosten, die Mühe und Zeit lohnt sich wahrlich, oder zum Wenigsten, knüpfe an einen Zufall geschickt an. Selbst voriges Semester noch entbehrte ich diese wahren Stützen des Studentenlebens. Jetzt aber habe ich außer Bekanntschaften mit Facultätsgenossen vor allem eine intime, u. recht vertraute Bekanntschaft mit einem Juristen, Namens Möller, aus Marienwerder, angeknüpft, welcher nach || allen Seiten gebildet e ist und zugleich einen herrlichen Charakter f besitzt. In solchem vertrautem Umgange nur kann man sich eine reale und gesunde Lebensansicht verschaffen. Nichts sollte mich mehr freuen, denn ich wüsste den Werth gehörig zu schätzen,

als wenn Du mir von einem Freunde schriebst, durch den wir unsere Freundschaft zugleich ausdehnten. Denn wir bleiben doch immer treue, unzertrennliche Freunde!

Dein Gesundheitszustand hat sich, wie ich zu meiner Freude gehört, gebessert, u. hast Du nichts zu befürchten. Meine Gesundheit ist ganz erfreulich, und was das Bein betrifft, so hoffe ich stets, aber lasse mich auch nicht niederschlagen, wenn die Hoffnungen nicht so schnell, als ich dachte, in Erfüllung gehen. Es mag sich bessern, so weit u. so viel es will, g ich binh auf alle Fälle vollkommen resignirt. Was ist denn mit Würzburg los, ich hatte vorher noch gar nicht gehört, daß dort eine Universität i ist.

Du wirst jetzt wohl eine ausgebreitete Correspondenz haben und mit Briefen reich gesegnet sein. Von mir wenigstens wirst Du nicht oft heimgesucht, so erlaube wenigstens, daß j der Brief etwas ausgedehnt ist.

Das Vergnügen Dich zu sehen, ist k leider von Neuem hinausgeschoben worden, und ich ärgere mich darüber, so oft ich daran denke. Umso schöner ist es vielleicht nächste Ostern. Aber ich fürchte, ein böser Dämon wird es mir auch dann nicht gönnen; in dieser Beziehung kann ich wirklich singen: „Unstern, diesem guten Jungen, hat es seltsam sich geschickt.“

Ich kann nur meine Versicherungen des Dankes und meiner innigsten Freundschaft gegen Dich l wiederholen, u. Dich hiermit vielmals grüßen, meinen treuesten Freund

Dein Ludwig.

a gestr.: machen; b gestr.: So wird man erst es sich bewusst, daß die Ansicht; c gestr.: mit; d gestr.: direc; e gestr.: hat; eingefügt: ist; f gestr.: hat; g gestr.: selbst im; h gestr.: habe; eingefügt: bin; i gestr.: sei; j gestr.: ich; k gestr.: nun; l gestr.: versi

 

Letter metadata

Empfänger
Datierung
30.11.1852
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 2311
ID
2311