Paul von Rautenfeld an Ernst Haeckel, Zürich, 14. Februar 1915

Zürich, d. 14. Februar 1915

Hotel Neptun, Seefeldstr. 15.

Hochgeehrter Herr Professor.

Indem ich Ihnen hiermit meinen herzlichsten Glückwunsch zum Geburtstag ausspreche, hoffe ich, daß das neubegonnene Jahr den erwünschten Frieden bringen wird, damit gesichertere Lebensverhältnisse und freundschaftlicher Verkehr der Kulturvölker untereinander bald hergestellt werden.

Ich habe Ihren Artikel über „Englands Blutschuld am Weltkriege“ im „Monistischen Jahrhundert“ gelesen und ich muß Ihnen durchaus beipflichten, daß England den Krieg gegen Deutschland aus selbstsüchtigsten Motiven längst geplant hatte, hatten mir doch in China || englische Staatsbeamte und Kaufleute oft genug gesagt, daß nur durch einen baldigen Krieg England sein Übergewicht gegen Deutschland bewahren könnte, was ich ihnen natürlich nicht zugab, da es mir auch jetzt noch scheint, daß beide Kulturstaaten ausgezeichnet ebenbürtig nebeneinander bestehen könnten.

Wenngleich der wissenschaftliche Betrieb in den kriegführenden Staaten leiden dürfte, so ist es auf der hiesigen Universität, deren Neubau zu den schönsten gehört, die ich kenne, ganz normal. Leider hat die Züricher Hochschule durch den Tod von Professor Arnold Lang einen ihrer hervorragendsten Vertreter verloren und ich bedaure es sehr, daß ich ihn nicht mehr habe hören können. Ich hatte wenigstens die Freude im August vorigen Jahres ihn in seiner Züricher Villa besuchen zu dürfen. Damals sagte er mir schon, daß er so krank wäre, daß er sich von zu Hause nicht rühren könnte. Sehr zu beklagen ist es, daß er den zweiten Band seiner „experimentellen || Vererbungslehre“ nicht hat abschließen können. Das wäre für ihn eine große Genugtuung gewesen.

Herren Professor Conrad Keller besuche ich, wie ich Ihnen bereits geschrieben habe, ab und zu in seiner Wohnung und ich höre auch seine Vorlesungen über die „Abstammung der Haustiere“ und über „Den heutigen Stand des Darwinismus“. In den letzteren bewährt er sich als Ihr aufrichtiger und furchtloser Freund. Er weist Ihre kleinlichen Gegner von Fleischmann und andere mit viel Humor und Sarkasmus zurück und er gab auch in unseren Stunden seinen Zuhörern ein treffendes Bild Ihres Lebenswerkes. In seiner äußeren Erscheinung ist er in der Tat „ein schauriger alter Junggeselle“. Aber auch sehr liebenswürdige Herr Professor Hescheler und seine Assistin Fräulein Dr Daiber sind unzweideutige Vertreter der Gasträatheorie und des biogenetischen Grundgesetztes, indem sie volles Verständnis für die Zenogenie in letzterem zum Beispiel zeigen und die Oskar || Hertwig-Plate’schen Auslegungen vollkommen beiseite lassen.

Abgesehen von den Vorlesungen über vergleichende Anatomie und über die Paläontologie der Wirbeltiere bei Professor Hescheler und vom Zootomischen Praktikum bei Fräulein Dr Daiber besuche ich noch weitere Kollegia über die Deszendenzlehre von Privatdozent Dr Tschulok (Verfasser des Buches über „Das System der Biologie in Forschung und Lehre“), über die Anthropologie des fossilen Menschen von Professor Schlaginhaufen, über die Biologie der Insekten von Dr Standfuss mit Erläuterung seiner Züchtungsversuche an Schmetterlingen, über die Grundzüge der Botanik bei Dr Kündig und schließlich wohne ich auch noch Demonstrationen im reichhaltigen zoologischen Museum bei, welche von Privatdozent Dr Strohl abgehalten werden, einem mir sehr sympathischen jungen Zoologen, dessen Richtung mir freilich noch nicht genau bekannt ist, der aber immerhin kein einseitiger Weismannianer oder Neolamarckist zu sein scheint. ||

Um nun alle jene Vorlesungen besuchen zu können, hatte ich mich im Oktober vorigen Jahres als regelrechter Student der Zoologie immatrikulieren zu [!] lassen, was leicht geschah, da ich mein Dorpatsches Kandidatendiplom zur Hand hatte. Somit ist nun mir Fünfzigjährigem der Wunsch meiner Jugend, Zoologie zu studieren, in Erfüllung gegangen, wenngleich ich das Studium leider nicht abschließen kann, da ich ja Ende Juli wieder nach China auf vielleicht weitere fünf Jahre zurückkehren muß. Immerhin kann ich noch das ganze nächste Semester Student bleiben. In meinem Zimmer in der Pension Neptun sieht es ganz zoologisch aus. Ich habe mir an einem Fenster einen langen Tisch gestellt, auf welchem die nötigen Reagenzien, Waschbecken, Instrumente und ein Termostat stehen, während am anderen ein Aquarium mit gelben und grünen Hydren und anderen Tieren sich befindet. An den nötigen Lehrbüchern fehlt es mir auch nicht. Zweimal in der Woche kommt ein junger Lehrer der Naturgeschichte || an der Knabenschule, Dr Männi, um privatim noch praktische Zoologie mit mir zu treiben.

Im Züricher See habe ich auch bereits sehr interessante Planktonten gefunden: Leptodora, Bythotrephes, Sida, Asplanchna, verschiedene Diatomeen u. s. w. Jetzt im Winter wird einem aber das Planktonfischen durch den dichten Schlamm, welcher im See von der Alge Oscillatoria rubescens gebildet wird, verleidet. Im hiesigen Naturforscherverein werden alle vierzehn Tage interessante Vorträge gehalten. So sprach z. B. am 25ten vorigen Monats der bekannte Dr Paul Sarasin über die tierischen und menschlichen Schnellrechner, wobei er besonders die Krallschen Pferde und den vor kürzerer Zeit gefundenen und geprüften Tamilknaben Arowugam hervorhob.

So könnte ich denn mit meinem gegenwärtigen Aufenthalt in Zürich im allgemeinen zufrieden sein, wenn die tiefschmerzliche, unauslöschliche Erinnerung an die abschiedslose Trennung von meiner inniggeliebten verstorbenen Mutter und die Sorge um || meine nächsten Anverwandten in der engeren Heimat mir nicht trübe Stunden bereiten würden. Es ist ein Glück für mich, daß ich ein so lebhaftes Interesse für die Zoologie hege, denn dasselbe hilft mir die schweren Schicksalsschläge mit Geduld ertragen.

Ich hoffe, hochverehrter Herr Professor, daß der Krieg Sie und Ihre Frau Gemahlin nicht allzusehr in Mitleidenschaft zieht und daß es Ihnen beiden gesundheitlich gut geht. Es ist ein Segen für Deutschland, daß der Feind außerhalb der Grenzen gehalten werden kann, somit dürfte denn auch das liebe Jena bis zum Friendensschluß unbehelligt bleiben.

Mit nochmaligen herzlichen Wünschen und meiner besten Empfehlung Ihnen und Ihrer hochverehrten Frau Gemahlin verbleibe ich in Dankbarkeit

Ihr ganz ergebener

P. v. Rautenfeld

Brief Metadaten

ID
22323
Gattung
Brief ohne Umschlag
Entstehungsort
Entstehungsland aktuell
Schweiz
Entstehungsland zeitgenössisch
Schweiz
Datierung
14.02.1915
Sprache
Deutsch
Umfang Seiten
7
Umfang Blätter
4
Format
14,1 x 22,2 cm
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
A 22323
Zitiervorlage
Rautenfeld, Paul von an Haeckel, Ernst; Zürich; 14.02.1915; https://haeckel-briefwechsel-projekt.uni-jena.de/de/document/b_22323