Paul von Rautenfeld an Ernst Haeckel, Sanshui, 16. Juni 1912

Samshui, d. 16. Juni 1912.

Hochgeehrter Herr Professor.

Meinen herzlichsten Dank für Ihren liebenswürdigen Brief vom 12. März. Die Nachrichten, welche Sie mir über Ihr Befinden geben, haben mich sehr betrübt, doch hoffe ich, daß mit der Zeit die Schmerzen in Ihrem Hüftgelenk vergehen werden und Sie sich wieder freier werden bewegen können. Ich würde zur wohlerprobten Heilgymnastik in Baden-Baden raten.

Daß Sie wieder an Ihren Lebenserinnerungen schreiben können, gereicht mir zu großer Freude. Sie arbeiten wohl in der Bibliothek des Phyletischen Museums, dessen Einrichtung jetzt ihrer Vollendung || entgegenzugehen scheint. Es wird mich ungemein interessieren es wahrscheinlich im Herbst 1914 während meines nächsten Heimatsurlaubs wiederzusehen, besonders wenn ich zugleich auch dann Sie, hochgeehrter Herr Professor, und Ihre Frau Gemahlin werde in Jena begrüßen und Sie noch nachträglich zu Ihrem 80ten Geburtstage werde beglückwünschen können.

Auf Wilhelm Ostwald’s „Monistische Sonntagspredigten“ bin ich abonniert und erwarte deren einzelne Nummern immer mit großer Ungeduld. Es spricht aus ihnen die Sprache der reinen Vernunft. Sie haben, Herr Professor, dem Monistenbunde mit Geheimrat Ostwald in der Tat einen trefflichen Leiter und Menschen erworben. Was Ostwald’s Energetik anlangt, so scheint sie mit im wesentlichen eine andere Darstellungsweise des wissenschaftlichen, monistisch aufgefaßten Materialismus zu sein. Substanz muß eben auch in der || Energetik, wie Sie sagen, aufgefaßt werden als das einzige, was ist, und Energie als das einzige, was wirkt. Denn sollte alles bloß auf Kraft hinauslaufen, dann möchte ich mit Huxley – der auf Boscovich’s Hypothese Bezug nimmt – sagen: „Force, even the most materialistic of philosophers will agree with the most idealistic, is nothing but a name for the cause of motion. And if, with Boscorich, I resolved things into centres of force, then matter vanished altogether and left immaterial entities in its place. One might as well frankly accept Idialism and have done with it.“

In Bezug auf die Mechanistik stimme ich mit Ostwald in sofern nicht überein, als daß ich der Ansicht bin, daß die Energetik nicht an ihre Stelle tritt, sondern sie bloß ergänzt. Ohne Vorbehalt unterschreibe ich aber seinen Satz: „Gott ist durch die Wissenschaft ersetzt worden.“ ||

Was die politischen Verhältnisse in China anbetrifft, so ist dem demokratischen und friedfertigen Sinne der Chinesen entsprechend, die Umwandlung der ehrwürdigen chinesischen Monarchie in eine Republik im großen und ganzen sehr glatt abgelaufen. Es steht wohl in der Geschichte einzig da, daß ein entthronter Herrscher sich von seinen Untertanen mit einem Edikt verabschiedet, in welchem er für sein Land eine republikanische Staatsverfassung empfiehlt. So manche Sinologen und Chinakenner, besonders in Deutschland und England, äußern sich in den Tageszeitungen sehr skeptisch über den Fortbestand der Republik, mir hingegen scheint es, daß China imstande sein wird eine republikanische Verfassung erfolgreich auszubilden, wenn es nur die nötigen Anleihen in Europa und Amerika rechtzeitig machen kann und die Republik von den Großmächten möglichst bald anerkannt wird. ||

Yüan Shih Kai' ist ein bewährter Staatsmann und auch der Ex-Präsident Dr Sun Yat Sen, welchen ich neulich in Canton kennenlernte, machte auf mich einen sehr günstigen Eindruck, ferner wird das zukünftige chinesische Parlament nicht durch eine reaktionär-klerikale Partei in seinen fortschrittlichen Bestrebungen behindert werden. Bedingung ist freilich, daß nicht Männer wie der fromme Lord William Gascogne-Cecil mit Plänen kommen „christlich orientierte“ Universitäten für Chinesen in Hankow und anderen Orten in China zu eröffnen, „um“, wie der Lord sagt, „China das zu geben, dessen es bedarf, nämlich den edleren Teil der westlichen Gedankenwelt, und um es zu bewahren vor dem entsetzlichen Gift des festländischen Materialismus.“ –

Die zur Zeit geeignetste Religion für China ist der Konfuzianismus, der als Vernunftlehre hoch über dem orthodoxen Christentum steht || und mit der Zeit sich sehr wohl zum Monismus wird umgestalten lassen.

Die Revolution verlief in Samshui ziemlich friedlich. Bombenwerfer und Piraten machten die Gegend auch hier unsicher, doch ließen sie die Fremden unbehelligt. Sogar eine chinesische Jeanne d’Arc erschien eines Tages hoch zu Roß in unserer Niederlassung und feuerte alle freien Geister zu energischer Teilnahme an der Revolution an, erregte dabei aber auch den Unwillen der unfreien Geister, indem sie in ihrem reformatorischen Übereifer einige Buddhas von ihren Altären warf, so daß der chinesischen Magistrat von Samshui es für geraten hielt sie schleunigst nach Canton zu befördern. Als die nicht gerade schöne Amazone einmal vorbeigaloppierend an meinem Wohnhause, meiner gewahr wurde, grüßte sie mich höflich; obgleich Freidenker, erwiderte ich den Gruß || mit dem stillen Wunsche: „Johanna geh’ und nimmer kehre wieder!“

Zu Beginn dieses Jahres war ich in großen Sorgen um den Gesundheitszustand meiner fünfundsiebzigjährigen alten Mutter gewesen, welche in Wiesbaden sich einer Krebsoperation an der rechten Brust hat unterziehen müssen. Die Operation kann nunmehr als glücklich gelungen betrachtet werden und ich hoffe, daß sie infolgedessen für den Rest ihres Lebens von jenem schweren Leiden verschont bleiben wird. Sie wird den nächsten Herbst und Winter in San Remo bei Verwandten verbringen.

Mit nochmaligen besten Wünschen für Ihre Gesundheit und meinem ergebensten Gruß an Ihre Frau Gemahlin verbleibe ich in Verehrung

Ihr dankbarer,

P. v. Rautenfeld

Brief Metadaten

ID
22316
Gattung
Brief ohne Umschlag
Entstehungsort
Entstehungsland aktuell
China
Entstehungsland zeitgenössisch
China
Datierung
16.06.1912
Sprache
Deutsch
Umfang Seiten
7
Umfang Blätter
4
Format
14,1 x 22,1 cm
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
A 22316
Zitiervorlage
Rautenfeld, Paul von an Haeckel, Ernst; Sanshui; 16.06.1912; https://haeckel-briefwechsel-projekt.uni-jena.de/de/document/b_22316