Paul von Rautenfeld an Ernst Haeckel, Swatow, 31. März 1906

Swatow, d. 31. März 1906

Hochgeehrter Herr Professor.

Vor kurzem von einem Ausfluge auf Formosa zurückgekehrt, fand ich bei mir zu Hause drei Broschüren und zwei Neujahrskarten von Ihnen vor. Meinen aufrichtigsten Dank für die freundliche Sendung, welche mir große Freude bereitet hat.

Ihr Vortrag „über die Biologie in Jena während des 19. Jahrhunderts“ war mir bereits prompt von meinem Hamburger Buchhändler zugesandt worden und sein interessanter Inhalt mir daher schon bekannt, als ich die Broschüre || von Ihnen erhielt. Gramzow’s und Hamann’s Abhandlungen kannte ich jedoch noch nicht. Des ersteren Darlegungen enthalten viel Wahres, wenngleich sie in Bezug auf die Psychologie noch etwas Neigung zur Metaphysik verraten. Ich hoffe Paulsen, Adickes und Genossen werden besonders das auf Seite 480 und 497 Gesagte beherzigen, wenn man solches bei dem großen Eigendünkel jener Herren überhaupt erwarten darf. Was Hamann anlangt, so ist es für mich interessant, daß er ganz ähnlich wie ich selbst, durch die gehässigen Angriffe eines Theologen auf Sie, sich dem Kirchentum ab und Ihnen und Ihren Werken mit Feuereifer zugewandt hatte. In seinem Falle war es der Religionslehrer auf der Schule, in dem meinigen ein vielgepriesener Theologie-Professor auf der Universität. ||

Obgleich ich vorher schon Ihre Biographien von Bölsche, Breitenbach, May und anderen gelesen hatte, so hat mich Hamann’s Buch doch sehr angeregt. Was er sagt ist mir aus der Seele gesprochen. Nur spinnt er zum Schluß, wie es scheint von Wilhelm Bölsche beeinflußt, etwas mystische Gedanken aus. Seine „Minotaurus-Kraft“ ist mir fremd. Ich neige weit eher zu Huxley’s Agnostizismus oder noch mehr zu Ihrem Hylonismus, indem ich mein volles Genügen darin finde mich eins mit der All-Natur zu fühlen und mich mit wachsendem Verständnis in sie zu vertiefen und ihre Lebenswunder, soweit wie es mir möglich ist, zu erfassen.

Mit Ihren „Wandertafeln“, deren Prospekt Sie die Liebenswürdigkeit hatten mir auch zu senden, habe ich bereits die Wände meines Arbeitszimmers geschmückt und habe meine Freude an den || wirkungsvollen Landschaftsbildern, welche zugleich schöne Erinnerungen in mir wachrufen.

Auch Ihre beiden Portraits auf den oben erwähnten Postkarten gefallen mir sehr. Der Marmorkopf hat etwas Altklassisches an sich und das andere Bild ist kurz vor unserem Zusammentreffen auf Java aufgenommen worden, an welche mir uvergeßliche Stunden Sie die Freundlichkeit haben mich auf seiner Karte zu erinnern.

Vor wenigen Wochen hatte ich so recht Gelegenheit an unsere Begegnung im Urwalde von Fjibodas am ersten des 20. Jahrhunderts zu denken. Ich weilte damals nämlich im Urwalde von Nord-Formosa unter den Kopfjägern, den wilden Ataiyal. Jener Wald steht in Bezug auf Baumfarn-Kulturpalmen- und || Exiphyten-Vegetation dem javanischen kaum nach, obgleich die hohen Kampferbäume südlicher im Gebirge erst vorkommen. Das Tierleben in seiner Wildnis tritt, so weit ich es beobachten konnte, nicht merklich hervor. Selbst die auf der Insel häufigen Affen ließen sich nicht blicken während meiner mehrstündigen Wanderung auf dem wildromantischen Gebirgspfade, welcher den Tamsui-Fluß aufwärts zu der Wildenansiedelung Urai führte. Bloß kinderkopfgroße runde Ameisennester zeigten sich nicht selten um den Ästen verschiedener Bäume und Sträucher. Um so interessanter waren die Eingeborenen, welche hier nicht in größeren Dörfern sondern in Ansiedelungen von drei bis vier Bambushütten aus einem Reisspeicher auf Pfählen, zerstreut || im Gebirgswalde leben. Einige diesem Briefe beigefügten Momentaufnahmen werden Ihnen vielleicht eine ungefähre Vorstellung von jenem Walde und seinen Bewohnern geben. Ich werdea mir auch erlauben Ihnen noch einige formosanische und chinesische Volkstypen, teils eigene, teils gekaufte Photographien, in einem separaten Couvert zu senden, welche Ihnen vielleicht von anthropologischem Interesse sein werden.

Der Nordostmonsun, welcher Nord-Formosa während der Wintermonate in Nebel und Regen hüllt, vereitelte mir leider meine Absicht zahlreiche photographische Aufnahmen von den interessanten, den Dajaks Borneos vielleicht verwandten Wilden der Insel zu machen, ich hoffe jedoch, daß es mir späterhin – wohl erst nach meinem nächst-||jährigen Heimatsurlaub – möglich sein wird während des regenlosen Sommers Nord-Formosa zu besuchen und dann das Versäumte nachzuholen. Vielleicht werde ich auch dann mich der malerischen Ostküste Formosas entlang nach der Kokospalmeninsel Botel Tabago mit seinen wie es scheint aus Melanesien stammenden Eingeborenen begeben können, um dort einen Monat Plankton zu fischen.

Ich habe eben ein neues Mikroskop von Zeiss, Stativ Ic mit großem Kreuztisch und agochromatischen Objektiven erhalten, und es trifft sich gerade so glücklich, daß ich als Probeobjekt vor einigen Tagen, zum ersten Mal hier in Swatow, aus einem kleinem Tank zwischen Reisfeldern eine Unmenge Volcox aureus mir habe verschaffen können. Merkwürdigerweise war in den zahlreichen || benachbarten Tanks kein einziger Volcox zu finden. Dieselbe Erfahrung machte ich übrigens schon früher mit Asplanchna und anderen mikroskopischen Tieren und Pflanzen des Süßwassers.

Ich danke Ihnen nochmals, hochverehrter Herr Professor, für die lehrreichen Schriften, welche Sie mir gesandt haben, und hoffe, daß Sie einen sehr angenehmen Sommer verbringen werden.

In größter Hochachtung

Ihr ergebenster

P. v. Rautenfeld

a eingef.: werde

Brief Metadaten

ID
22289
Gattung
Brief ohne Umschlag
Entstehungsort
Entstehungsland aktuell
China
Entstehungsland zeitgenössisch
China
Datierung
31.03.1906
Sprache
Deutsch
Umfang Seiten
8
Umfang Blätter
4
Format
11,3 x 17,9 cm
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
A 22289
Zitiervorlage
Rautenfeld, Paul von an Haeckel, Ernst; Swatow; 31.03.1906; https://haeckel-briefwechsel-projekt.uni-jena.de/de/document/b_22289