Paul von Rautenfeld an Ernst Haeckel, Swatow, 10. Januar 1904

Swatow, d. 10. Januar 1904

Hochgeehrter Herr Professor!

Mit dem Gefühle aufrichtiger Verehrung und wärmster Teilnahme sende ich Ihnen hiermit meine besten Glückwünsche zu Ihrem siebzigsten Geburtstage. Obgleich Sie letzteren erst nach fünf Wochen begehen werden, so veranlaßt mich die große Entfernung Swatows von Jena, (leider ist mir Ihre genaue Adresse in Sizilien nicht bekannt), Ihnen schon jetzt zu Ihrem Feste zu gratulieren. Der 16te Februar wird auch für mich ein wahrer Freudentag sein, denn nichts hat auf mein gesamtes Geistesleben eine so gewaltige aufklärende Macht ausgeübt wie Ihr geniales Wirken als Naturforscher || und Philosoph. Schon als Sekundaner in der Mitte der achziger Jahre erfüllte mich Begeisterung für Ihre Person, als ich die „indischen Reisebriefe“ gelesen hatte, doch erst als Dorpatscher Student wurde ich durch Ihre Natürliche Schöpfungsgeschichte, welche mir ein Student der Midizin [!] geliehen hatte, (gekauft werden konnte dieselbe damals nicht in Rußland)! mit der Entwickelungstheorie und Ihrer monistischen Weltanschauung bekannt. An die Höhenluft, welche in diesem wunderbaren Werke weht, mußte mein damals noch streng kirchlicher Sinn sich erst gewöhnen und es gab so manche ernste Frage, die ich mir da vorlegte. Erleichtert wurde es mir zum Beispiel durch folgenden charakteristischen Zwischenfall, der mir besonders lebhaft in der Erinnerung geblieben ist. Der Theologe und Moralstatistiker Professor Alexander von Öttingen, welcher mir immer als Rhetor gewaltig imponiert hatte, || hielt einmal einen Vortrag im Dorpater Handwerkerverein, wobei er einige von Professor Kennel vorher, gleichenorts gemachte darwinistische Äußerungen über die Abstammung des Menschen scharf zurückwies. Voll von dem was ich kurz vorher in der „Natürlichen Schöpfungsgeschichte“ gelesen und auch in Professor Kennel’s Kolleg gehört hatte, wagte ich es, trotz meiner damaligen Schüchternheit, Öttingen entgegenzutreten. Ich hielt ihm vor allem das biogenetische Grundgesetz vor. Kaum hatte ich aber Ihren Namen genannt, so wurden mir Erwiderungen zu teil, wie sie nur von einem Zeloten vom Schlage Stöcker-Loofs herrühren können. Das kam mir, armer Studiosus, allzu unerwartet, ich gab die Diskussion auf, ging nach Hause und vertiefte mich in die „Natürliche Schöpfungsgeschichte“ bis in die Nacht hinein. Professor Öttingen hatte mich nicht überführt, sondern im || Gegenteil, meine Bewunderung für ihn war dahin. Seine boshaften Ausfälle gegen Sie erschienen mir unverantwortlich. Seitdem verlangte es mich nun Sie persönlich kennen zu lernen. Dieses Glück wurde mir denn auch im Jahre 1891, als ich meinen verehrten Lehrer Professor Brückner in Jena besuchte, zu teil, nachdem letzterer mich ermutigt hatte Ihnen einen Besuch zu machen. So wurde dieser erste Besuch der Anfang zu meinen ferneren unvergeßlichen Begegnungen mit Ihnen im Jahre 1897 in Ihrem zoologischen Institute, 1901 in Java und bald darauf wieder in Jena. Wie habe ich besonders während meines letzten Besuches Ihre Vorlesungen und das sonstige Beisammensein mit Ihnen genossen und dabei noch durch Ihre freundliche Vermittlung so geschätzte Bekanntschaften wie die der Herren Professoren Stahl, Walther und Schultze || sowie Ziegler und vor allem Herren Professor Hans Meyer’s mit seiner reizend liebenswürdigen Gemahlin, Ihrer Frau Tochter, gemacht. Ich hoffe noch häufig nach Jena zurückkehren zu können und werde mich vielleicht noch Jahr und Tag dort ganz niederlassen, hat ja auch in Ihrer trauten Universitätsstadt mein Vater die glücklichsten Jahre seines Lebens verbracht.

In der Voraussetzung, daß es Ihnen Freude machen würde eine Ihrer Schriften in chinesischer Übertragung zu sehen, habe ich Ihren altenburger Vortrag, das Glaubensbekenntnis eines Naturforschers, ins Chinesische zu übersetzen versucht. Leider hatte ich im vorigen Sommer wegen eines Rückfalls meiner bösen Augenentzündung in Folge von Malaria, mehrere Monate lang das Übersetzen einstellen müssen, denn, obgleich ich den Pinsel selbst nicht führe, sondern das Zusammenstellen || der Hieroglyphen meinem gelehrten chinesischen Freunde Herrn Hsü überlasse, so habe ich doch nichtsdestoweniger meine Augen bei der Arbeit zu benutzen. Ich kann infolgedessen zu meinem Bedauern Ihnen die Übersetzung des Vortrages nicht zum 16ten Februar senden, hoffe aber eine saubere Abschrift des Manuskripts, zunächst ohne Anmerkungen, Ihnen nach einigen Wochen zukommen lassen zu können. Wenn die Anmerkungen auch übersetzt sein werden, schicke ich zur Durchsicht eine zweite Abschrift mit denselben an meinen Freund Dr. Otto Franke, welcher früher im deutschen Konsulardienste in China angestellt war und gegenwärtig Privatgelehrten der Sinologie in Berlin ist, und darauf könnte vielleicht mit Ihrer Erlaubnis die Übersetzung dem Druck bei irgend einem geeigneten chinesischen Verleger übergeben werden. ||

Wenn auch das Buch vielleicht den fossilen Geist des Chinesen nicht sofort beleben dürfte, so wird es ganz entschieden ein Senfkorn für kommende Zeiten sein, wenn China allmählig die bloß rückblickende Philosophie des Konfuzius mit dem der Zukunft angehörigen Monismus vereinigt. Ich versäume es auch nicht bei jeder Gelegenheit europäisch gebildete Chinesen zu überreden die Übersetzung Ihrer anderen Werke, besonders der Welträtsel vorzunehmen, was ihnen vielleicht an der Hand Ihres von mir übersetzten Glaubensbekenntnisses später leichter fallen dürfte. Ich selbst als bloßer Laie auf dem Gebiete der Sinologie darf dieses nicht wagen, da man bei der Übersetzung solcher Werke fast eine neue wissenschaftliche Sprache für das Chinesische zu erfinden hat.

Ich gestatte mir auch Ihnen meine || Photographie zum Geburtstage zu senden. Hinter Ihrem Bilde auf dem Schreibtische sehen Sie da auch das Portrait meiner verstorbenen jüngeren Schwester Lucie. Sie wurde von der Influenza am 19ten Dezember 1889 dahingerafft. Ihr wunderbar edles Gemüt und ihr schönes dichterisches Talent hatten die hingebenste Bruderliebe zu ihr schon als Knaben in mir erweckt und ich verdanke ihr im gleichen Maße wie Ihnen alles „Wahre, Gut und Schöne“, zu dem ich fähig bin.

Möchte es Ihnen, hochverehrter Herr Professor, beschieden sein noch viele Jahre Ihrem hohen Beruf zum Heile der Menschheit obzuliegen und möchte noch so manches Jahrzehnt Sie so frisch und gesund, wie Sie es augenblicklich sind, zu neuer Jubelfeier wiederfinden!

In Dankbarkeit und Verehrung,

Ihr, Ihnen ganz ergebener,

P. von Rautenfeld

Brief Metadaten

ID
22278
Gattung
Brief ohne Umschlag
Entstehungsort
Entstehungsland aktuell
China
Entstehungsland zeitgenössisch
China
Datierung
10.01.1904
Sprache
Deutsch
Umfang Seiten
8
Umfang Blätter
4
Format
12,6 x 20,2 cm
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
A 22278
Zitiervorlage
Rautenfeld, Paul von an Haeckel, Ernst; Swatow; 10.01.1904; https://haeckel-briefwechsel-projekt.uni-jena.de/de/document/b_22278