Carl Rabl an Ernst Haeckel, Prag, 16. November 1885

Prag, 16. November, 85.

Hochverehrter Herr Professor!

Offen gestanden, bin ich in Verlegenheit, wie ich meinen Brief beginnen soll; denn es wäre schon längst meine Pflicht gewesen, Ihnen und Ihrer hochgeehrten Frau Gemalin für die so ausserordentlich liebenswürdige Aufnahme, die meine Schwester und ich bei unserem Aufenthalte in Jena gefunden haben, den allerverbindlichsten Dank zu sagen. Aber ich hoffe, dass Sie mir meine Formlosigkeit, durch welche ich leider schon so oft und auch schon in den hiesigen Professorenkreisen Anstoss erregt habe, verzeihen und meinen und meiner Schwester Dank auch noch nachträglich entgegennehmen.

Ich wurde am 25. Juli, also an demselben Tage, an welchem ich das Vergnügen hatte, in Ihrem Familienkreise zu sein, zum Extraordinarius ernannt und bin seit etwa sieben Wochen in Prag, wo ich die Lehrkanzel für Anatomie zu suppliren habe. Hoffentlich wird diesem || Provisorium bald ein Definitivum folgen. Ich habe hier sehr viele Hörer; im Secirsaale arbeiten 320 Studenten. Trotzdem finde ich hier viel mehr Zeit zu eigener Arbeit als in Wien und ich hoffe, noch vor Weihnachten an Gegenbaur einen kleinen Aufsatz über Herzentwicklung einsenden zu können. Da ich annehmen darf, dass Sie sich dafür interessiren, so ich mir erlauben, Ihnen das Hauptresultat meiner Untersuchung in Kürze mitzutheilen. Meine Abhandlung läuft darauf hinaus, eine einheitliche Auffassung der Entwicklungsvorgänge, welche zur Bildung des Herzschlauches führen, anzubahnen. Bekanntlich gibt Kölliker nebenstehendes Durchschnittsbild der Herzanlage eines Kaninchenembryos:

[Annotierte Zeichnung]

Es entsteht also die Herzanlage doppelt, seitlich symmetrisch, durch einen Faltungsprocess der Darmfaserplatte. Einen ähnlichen Process hat unlängst Blaschek, De-||monstrator am Wiener anatomischen Institute beim Frosch beobachtet; die beiden Falten berühren sich aber hier in der Mediarlinie des Bauches. Beim Pristiurus und anderen Haien hat aber Balfour nur eine einfache Herzanlage gefunden; bei den Vögeln hinwiederum ist sie doppelt u.s.w. Kurz man weiss nicht, wie man sich die Dinge zurechtlegen und die Beobachtungen in Einklang bringen soll.

Ich habe nun Salamandra maculosa untersucht und finde die Herzanlage einfach und in folgender Form:

[Annotierte Zeichnung]

Aus dieser primitiven Form kann man nun die complicirte, doppelte Herzanlage der Vögel und Säugethiere dadurch ableiten, dass man sich denkt, es habe sich, wie dies ja thatsächlich der Fall ist, auf dem Wege von den Amphibien zu den Annioten ein Nahrungsdotter entwickelt. Ich denke mir nun || einen solchen Salamanderembryo ventralabwärts aufgeschlitzt und flach auf den Dotter gebreitet; so würde sicha das folgendes Bild ergeben (vorausgesetzt natürlich, dass jede der beiden durch diesen Vorgang erzeugten Herzhälften abgeschlossen wäre):

[Zeichnung]

Und dies sind nun in der That die bei den Vögeln und Säugethieren vorliegenden Verhältnisse.

Mehr in’s Detail will ich mich nicht einlassen, um Sie nicht zu langweilen.

Ein zweites Resultat meiner Untersuchung ist, dass die erste Anlage des Herzens im Bereich des Hyoidbogens entsteht und von hier nach rückwärts wächst.

Ein drittes Resultat ist, dass der erste Aortenbogen, zwischen Mandibular- und Hyoidbogen gelegen, ein Product des inneren Herzhäutchens ist und einfach durch Auswachsen dieses Endothelrohres entsteht. Wahrscheinlich ist dies auch mit den anderen Aortenbögen der Fall.

Endlich viertens habe ich mehrere Gründe zu der || Annahme, dass das „innere Herzhäutchen“, also das Endothelrohr, über dessen Abkunft man ganz und gar nichts weiss, aus dem Entoderm (!) stammt. Dafür spricht auch die Kölliker’sche Zeichnung vom Kaninchen; es findet sich am Entoderm unter der Herzanlage eine kleine Bucht, welche ich mit einem x bezeichnet habe und die ich als Narbe auffasse, welche nach der Abschnürung des Endothelsäckchens oder inneren Herzhäutchens zurückgeblieben ist. Ich bin nun sehr geneigt, alles Endothel der Gefässe von diesem primitiven Endothelsäckchen abzuleiten; für den ersten Aortenbogen und für die Venae omphalo-mesentericae kann ich dies direct erweisen und auch die bekannten Beobachtungen über die Neubildung der Capillaren zeigen, dass Endothel immer nur aus Endothel entsteht. Nun ist aber das Endothel unstreitig der wichtigste Theil der Gefässe, alles andere ist nur Zuthat, und es würde sich also in letzter Instanz das Endothel aller Gefässe vom Entoderm und die Höhle der Gefässe || von der primitiven Darmhöhle herleiten.

Damit würde b eine merkwürdige Analogie (natürlich nicht Homologie) mit den Coelenteraten gegeben sein und sich ein phylogenetischer Zustand der Chordaten ergeben, auf welchem, ähnlich wie bei den Coelenteraten, die Darmhöhle mit der primitiven, ventralen, Gefässhöhle in Communication stand. –

Nun aber schliesse ich, da Sie an so lange Briefe von mir nicht mehr gewöhnt sind.

An Ihre hochgeehrte Frau Gemahlin meine besten Empfehlungen und nochmals meinen Dank für die liebenswürdige Aufnahme.

Ihr

treu ergebener Schüler

Rabl.

Prag, Deutsches anatomisches Institut, Salmgasse 5.

a eingef.: sich; b gestr.: sich

Brief Metadaten

ID
22025
Gattung
Brief ohne Umschlag
Verfasser
Entstehungsort
Entstehungsland aktuell
Tschechien
Entstehungsland zeitgenössisch
Österreich-Ungarn
Datierung
16.11.1885
Sprache
Deutsch
Umfang Seiten
6
Umfang Blätter
3
Format
14,4 x 22,9 cm
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 22025
Zitiervorlage
Rabl, Carl an Haeckel, Ernst; Prag; 16.11.1885; https://haeckel-briefwechsel-projekt.uni-jena.de/de/document/b_22025