Carl Rabl an Ernst Haeckel, Wien, 17. November 1883

Wien, 17. November 83.

Hochverehrter Herr Professor!

Sie werden sich vielleicht wundern, so kurz hinter einander von mir zwei Briefe zu erhalten, da ich doch sonst nicht zu den schreibseligen Menschen gehöre. Aber ich bin in letzter Zeit allerhand Schurkereien auf die Spur gekommen und ich möchte Sie freundlichst bitten, mir zu rathen, was ich thun soll. Ich bitte Sie aber, den Inhalt des Briefes geheim zu halten und nur Herrn Prof. Gegenbaur, wenn Sie es für gut finden, davon Mittheilung zu machen.

Wie Sie wissen, lese ich, parallel zu Prof. Langer, ein sechsstündiges Colleg über descriptive und topographische Anatomie. Ich habe 123 inscribirte Hörer, die, wie ich glaube, mit || meiner Vorlesung ganz zufrieden sind. Nun besteht eine Partei im Professorencollegium, welche Prof. Zuckerkandl aus Graz hierherbringen will, um eine Stimme mehr für sich zu haben und der Gegenpartie wirksamer opponiren zu können. Diese Partei wird von den Herren Stricker, Albert und Kundrat geleitet; an der Spitze der Gegenpartei stehen Langer, Brücke und Billroth.

Vor acht Tagen ist nun allerdings der Antrag auf Einrichtung einer zweiten Lehrkanzel der Anatomie und damit zugleich die Berufung Zuckerkandls von der Majorität des Professorenkollegiums zurückgewiesen worden; es steht aber zu erwarten, dass er bald wieder gestellt und schliesslich durchdringen werde.

Soweit wäre die Geschichte für mich ohne weiteres Interesse. Nun sind aber Kundrat und Zuckerkandl und eine grosse Anzahl || der Grazer Professoren sehr gut befreundet mit einem gewissen Dr Eberstaller, der seit sechs Jahren in Graz Prosector ist und nach Planer’s Tode ein Jahr lang Supplent der Lehrkanzel war, im Übrigen aber weder Privatdocent ist, noch überhaupt irgend einmal etwas publicirt hat. Gegenwärtig soll er über Verbrechergehirne arbeiten. Ich persönlich halte ihn zwar für einen sehr „gemüthlichen“ Herrn, aber für eine total unfähigen Menschen.

Diesen Mann nun will man an Stelle Zuckerkandls zum Professor machen und es ist gar nicht daran zu zweifeln, dass er, sowie einmal die Besetzung in Frage kommt, primo loco genannt wird, während ich, der ich mit Zuckerkandl nicht auf dem besten Fusse stehe, wenn überhaupt, nur tertio loco genannt werde. – Sonst bleibt mir nichts übrig, als jede Hoffnung auf Graz aufzugeben. || In Innsbruck sitzt Noll und wird auch wahrscheinlich dort sitzen bleiben.

Es käme also nur mehr Prag in Frage. Nach Langer’s Abgang, also in etwa fünf Jahren, wird sicherlich Toldt an seine Stelle berufen und die anatomische Lehrkanzel in Prag frei werden.

Nun brauche ich Ihnen wohl kaum zu sagen, dass von Seiten der Regierung die Absicht besteht, die deutsche medicinische Facultät in Prag immer mehr zu schädigen und schliesslich vielleicht ganz eingehen zu lassen. Da ich nun nie ein Hehl aus meinen deutschen Gesinnungen gemacht habe, so darf ich schon aus politischen Gründen nicht hoffen, nach Prag zu kommen. Zudem wird von Prof. Albert, der ein enragirter Tscheche ist und bei der Regierung sehr gut steht, Dr Lorenz protegirt, der politisch farblos ist und sich dadurch für die Stelle gut eignen würde. Lorenz hat eine grössere Arbeit || „über den Plattfuss“, ferners eine über „Darmwandhernien“ publicirt und einige anatomische Abnormitäten beschrieben; er war Assistent Prof. Albert’s und weilt gegenwärtig in München, wo er unter Anderem bei Rüdinger Anatomie hört.

Somit bleibt mir nichts übrig, als auch auf Prag zu verzichten. So unglaublich es scheint, so ist es nun einmal doch so: ich bin der einzige Privatdocent der Anatomie in Österreich, bin ich Wien mit einer Parallelvorlesung betraut, habe den Secirsaal zu leiten, – und stehe ganz aussichtslos da. Ich bin mit Arbeit so überhäuft, dass ich täglich von 8 Uhr Früh bis 9 Uhr Abends im Institute bleiben muss, um nur einigermassen fertig zu werden. Die Vollendung einer grösseren Abhandlung über Zelltheilung, welche ich im Sommersemester || begonnen habe, musste ich auf die nächsten Weihnachtsfeiertage verschieben.

Nach alledem werden Sie begreifen, dass ich die größte Sehnsucht habe, aus Österreich wegzukommen und dass ich gerne bereit wäre, jede Stelle, welche nur annähernd meiner jetzigen gleichkäme, zu acceptiren. In pecuniärer Beziehung bin a ich hier zwar sehr gut gestellt, aber da ich von Hause, wenn auch nicht glänzend, so doch nicht schlecht versorgt bin, so würde ich gerne auf einen Theil keiner Einkünfte verzichten.

Ich bitte Sie nun freundlichst, mir zu schreiben, was ich thun soll. Das, was mich am meisten drückt, ist, dass ich hier zu keiner eigenen Arbeit komme; ich bin sehr gerne bereit, zehn Stunden des Tages für ein Institut zu arbeiten, aber zwei bis drei Stunden möchte ich für mich selbst frei haben.

Ich hoffe, dass Sie mich nicht falsch verstehen || werden; ich habe keinen Grund und keine Lust, um eine Stelle zu betteln. Denn, wie gesagt, bin ich für den Augenblick sowohl pecuniär als social sehr gut, vielleicht geradezu glänzend, gestellt.

Nehmen Sie mir den Brief nicht übel; ich habe mir es lange überlegt, bevor ich mich entschlossen habe, Sie, den ich von allen meinen Lehrern am meisten verehre, um Rath zu bitten; und nur das, nicht mehr, soll mein Brief bezwecken.

Mit ausgezeichneter Hochachtung

Ihr

dankbarer Schüler

Rabl.

a gestr.: t

Brief Metadaten

ID
22021
Gattung
Brief ohne Umschlag
Verfasser
Entstehungsort
Entstehungsland aktuell
Österreich
Entstehungsland zeitgenössisch
Österreich-Ungarn
Datierung
17.11.1883
Sprache
Deutsch
Umfang Seiten
7
Umfang Blätter
4
Format
14,5 x 22,8 cm
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 22021
Zitiervorlage
Rabl, Carl an Haeckel, Ernst; Wien; 17.11.1883; https://haeckel-briefwechsel-projekt.uni-jena.de/de/document/b_22021