Paul Rottenburg an Ernst Haeckel, Dalnair, 1. Oktober 1911

DALNAIR

DRYMEN

STIRLINGSHIRE N. B.

Dalnair 1ten Oct. 1911

Liebster Freund. –

Entschuldige, bitte, den Etwas verspäteten Dank für Deinen Brief nacha Stuttgart. Es hat mir riesig leid gethan daß die Sache nicht „klappte“ und wir uns nicht wiedersehen konnten. Ich saß aber Sonnabend Abend 16ten September mit Filius Francis bereits auf der Bahn von Marbach nach Hamburg. Die Chemische Industrie stattete als Schlußakt Schiller’n einen Besuch ab. Es war mir neu und hat mich sehr interessirt. – Schade daß der Monisten Congreß nicht auf den 17ten fiel – das hätte schön gepasst. Mittwoch bis Sonntag in Berlin – 25sten Morgens wieder in London und seit Mittwoch früh wieder in der Tretmühle.

Die Eindrücke, die ich speziell von Berlin zurückgebracht habe, sind aber leider mehr als traurig. Wo ist die Würde die Größe das Ideale die Poesie Deutschlands geblieben? Nichts als Protzenthum, Neid Haß Verleumdung. Grade-||zu entwürdigend und scheußlich. Ganz Europa gleicht mehr und mehr einem Affenkäfig – Deutschland aber in erster Linie. Am liebsten erklärten die betreffenden Kreise morgen Krieg gegen England und vernichteten die Englische Flotte. –

Der Sohn eines alten verstorbenen Freundes (er siedelte nach Deutschland über) erklärte: „Das sei der einzige Fleck in seinem Leben daß er in Glasgow geboren.“ – Eine Cousine meinte: Es sei 40 Jahre her daß Deutschland seine Macht bewiesen habe – es sei jetzt Zeit es abermals zu thun; Deutschland müßte gefürchtet werden. Deutschland hätte ob Marocco schon lange dreinschlagen müßen! Und Berlin schlägt im Luxus seiner Nachtlokale Paris London und New York. Das Leben pulsirt 24 Stunden. Restaurants machen um 2 Uhr Morgens auf und bleiben die ganze Nacht offen. – Und das Theater! Unglaublich. Die tollsten Stücke werden || von Familien mit jungen Töchtern und fast Kindern besucht. Besonders ein Stück „Anatol“ leistete Tolles. –

Im französischen sind derartige Sachen piquant im Deutschen roh. –

Ruhe scheint dahin. Gestern Marokko heute Tripolis. Der Dreibund ist die reine Räuberbande. – Entschuldige diesen Erguß.

Wie geht es Dir? Hoffentlich habt Ihr: Du und Walter schönes Herbstwetter und Baden-Baden bewährt seine frühere Heilkraft.

Mit besten Wünschen u herzlichen Grüßen

Stets Dein alter

Paul Rottenburg.

Seit einigen Tagen sind die schottischen Berge mit Schnee bedeckt! –

a korr. aus: von

Brief Metadaten

ID
20134
Gattung
Brief ohne Umschlag
Entstehungsort
Datierung
01.10.1911
Sprache
Deutsch
Umfang Seiten
2
Umfang Blätter
2
Format
13,6 x 22,1 cm
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 20134
Zitiervorlage
Rottenburg, Paul an Haeckel, Ernst; Dalnair (Glasgow); 01.10.1911; https://haeckel-briefwechsel-projekt.uni-jena.de/de/document/b_20134