Otto Volger an Ernst Haeckel, Frankfurt a. M., 24.11.1866

DAS FREIE DEUTSCHE HOCHSTIFT | FÜR

WISSENSCHAFTEN, KÜNSTE UND ALLGEMEINE BILDUNG | IN

GOETHE’S VATERHAUSE

Herrn Professor Dr. Ernst Haeckel in Jena.

FRANKFURT A. M., DEN 24/XI. 1866

Hochgeehrter Herr!

Da ich mich Ihnen als einen der ohne Zweifel wenig zahlreichen Fachgenossen vorstellen kann, welche Ihre „Generelle Morphologie“ mit voller Empfänglichkeit für alle daraus zu schöpfende Belehrung, ohne Vorurtheil und ohne Hochmuth, nicht blos durchblättern und tadeln oder loben, sondern gründlich durchdenken werden ‒ wie ich denn damit bereits eifrigst begonnen habe ‒ so || gestatten Sie mir auch wohl eine Fürbitte, deren es vermuthlich gar nicht bedürfen würde, wenn Sie von unserer Stiftung Kunde hätten.

In Goethe’s Vaterhause, welches wir als Eigenthum des Deutschen Volkes erworben und mit vielem Fleiße zu einem unvergleichlichen Denkmale herzustellen gesucht haben, sammeln wir nicht allein alle Werke und zerstreuten Schriften Goethe’s in allen verschiedenen Handschriften und Drucken, sondern auch Alles, was an sein geistiges Schaffen erörternd, erläuternd und fortbildend sich anlehnt. Hier dürfte daher auch der wahre Ort sein, um das eigenhändig gewidmete Exemplar Ihres Werkes niederzulegen, welches Sie dem großen Sohne Frankfurts darbringen würden, wenn er noch lebte.

Nach den flüchtigen, leider nicht weiter durchgeführten Verhandlungen zu Stettin, bei welchen es mir zunächst darauf ankommen musste, Ihre gänzlich der alten Schule entnommene geologische Anschauungsweise abzulehnen, und nachzuweisen, daß die Geologie durchaus nicht in der so vielfach benutzten || Weise zur Bestätigung und Darstellung der Descendenz-Theorie dienen dürfe ‒ glauben Sie vielleicht, daß ich ein Gegner der letzteren sei. Und doch habe ich in einem Werkchen, welches bereits ein Jahr vor Bekanntwerden des Darwin’schen Werkes in Deutschland, nämlich 1858, geschrieben und welches durchaus im Sinne des Monismus gehalten ist (das „Buch der Erde“, Leipzig bei Spamer) die Decendenz-Theorie als die allein richtige dargestellt. Der scheinbare Widerspruch liegt, nach meiner Ansicht, nicht in einer Inconsequenz auf meiner, sondern auf Darwin’s Seite und ich werde mir erlauben, dieselbe, an Ihr Werk anknüpfend, sobald mir irgend dazu die Zeit vergönnt sein wird, d.h. hoffentlich sehr bald, zum Nutzen der Verständigung nachzureichen. Ich werde Ihnen zeigen, daß auch Sie den Monismus noch keineswegs vollständig durchgeführt haben, sondern selber noch ‒ so paradox Ihnen dies auch erscheinen mag ‒ tief in einem Dualismus, ja im Vitalismus, stecken geblieben sind. Es würde mir leid thun, wenn Ihnen diese Worte als eine Schmälerung meiner aufrichtigen Anerkennung Ihrer Verdienste erscheinen sollten, während dieselben nach meiner Denkungsweise || mein Vertrauen zu Ihrer Unbefangenheit ausdrückend, vielmehr nur ein Zeugniß meiner Hochachtung sein wollen.

Da ich in diesem Winter gerade in Goethe’s Vaterhause (vor einer sehr zahlreichen Zuhörerschaft) Vorträge über die Urgeschichte der Menschheit halte, so können Sie sich denken, wie sehr ich Gelegenheit finde, auf Ihr Werk Bezug zu nehmen, und wie sehr es mich freuen würde, wenn ich das Zeugniß Ihrer Pietät gegen den Sohn dieses Hauses in möglichster Unmittelbarkeit meinen Zuhörern sowie den Stiftsgenossen vor Augen führen könnte.

Genehmigen Sie den Ausdruck der vorzüglichsten Hochachtung, mit welcher verehrungsvollst zeichnet

Ihr

ergebener

G. H. Otto Volger Dr.

d. Z. Obmann des Freien Deutschen Hochstifts

Brief Metadaten

ID
19726
Gattung
Brief ohne Umschlag
Verfasser
Institution von
Das Freie Deutsche Hochstift für Wissenschaften, Künste und allgemeine Bildung in Goethe's Vaterhause
Entstehungsort
Entstehungsland aktuell
Deutschland
Entstehungsland zeitgenössisch
Deutsches Reich
Zielort
Zielland
Deutschland
Datierung
24.11.1866
Sprache
Deutsch
Umfang Seiten
4
Umfang Blätter
2
Format
22,3 x 27,7 cm
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 19726
Zitiervorlage
Volger, Otto an Haeckel, Ernst; Frankfurt am Main; 24.11.1866; https://haeckel-briefwechsel-projekt.uni-jena.de/de/document/b_19726