Marie Eugenie delle Grazie an Ernst Haeckel, Wien, 19. April 1899
Wien, 19. April 1899.
XIX. Colloredogasse 4.
Hochverehrter Meister!
Vor einiger Zeit ging mir – wahrscheinlich auf Ihre liebenswürdige Veranlassung – durch das bibliographische Institut in Leipzig die erste Lieferung des Prachtwerkes „Kunstformen der Natur“ zu. Lassen Sie mich, wenn auch später, als mein entzücktes Herz mich drängte, Ihnen meinen wärmsten und verehrungsvollsten Dank dafür aussprechen! Nur Abhaltungen || ernster Natur – so eine nicht unbedenkliche Erkrankung Prof. Müllners, und einige Veränderungen in unserem Haushalte, waren Schuld an meinem langen Schweigen. Auch hab’ ich viel und eingehend gearbeitet, ein neues Drama vollendet, und einige andere Kleinigkeiten, von den ich Ihnen eine – „Arme Seelen“ zugehen lasse, als Zeichen, dass kein Woerishofener Aufenthalt an dem zu rütteln vermocht, was wir „unsere“ Weltanschauung nannten! Auch die neue Auflage Ihrer unsterblichen „Schöpfungsgeschichte“ nahm ich in stilleren Stunden wieder durch. Auf’s || Neue hingerissen, und überzeugter denn je! – Ad vocem Woerishofen … da werden Sie uns heuer nicht auslachen können. Wir geh’n über Sommer nach Tyrol, und wollen den September wieder in Salò zubringen, wo ich fleißig im Gardasee herumzuschwimmen gedenke. –
Nun wissen wir Alle – bis auf den flüchtigen Neujahrsgruß – schon so lange nichts von Ihnen! Auch Carneri! Nehmen Sie’s daher meiner Sorge und dankbaren Anhänglichkeit nicht übel, wenn ich um eine, auch noch so || kurze Nachricht über Ihr Befinden bitte. Das ist ja mit ein paar Worten geschehen; und wir sehen Sie dann in unseren Gesprächen über Sie wieder so sonnig und vollendet vor uns, wie damals!
Herr Prof. Müllner sendet seine verehrungsvollen Grüße; ich bin u. bleibe Ihre in dankbarer Hochschätzung unwandelbare
ergebene
M. E. delle Grazie.