Wilhelm Olbers Focke an Ernst Haeckel, Bremen, 4. März 1910
Stein. Kreuz 5, Bremen, 4.3.10.
Lieber alter Freund!
Bevor Du Deine Fahrt ans Mittelmeer antrittst, möchte ich Dir mitteilen, dass Freund Krabbe den Gedanken, noch einmal zusammenzukommen, mit Freuden begrüsst hat. Er bedauert nur, dass er wegen seiner immer mehr abnehmenden Sehkraft nicht gut mehr allein reisen könne. Wenn Dir Kopenhagen zu weit entfernt liegt, so kann er nur auf dem Wege über Warnemünde entgegenkommen, weil dorthin von Kopenhagen aus kein Wagenwechsel stattfindet. Er ist daher mit meinem Vorschlage, Rostock zu wählen, einverstanden. Berlin ist für ihn recht weit und ist, wenigstens nach meiner Auffassung, || recht ungemütlich. Darüber magst Du nun anders denken. Krabbe ist der Aelteste von uns und auch wegen seiner Augen am meisten behindert. Für andere Reisen als die ganz einfachen muss er schon Begleitung haben. Seine Frau, die sonst mit ihm geht, hat eine Brustdrüsenoperation durchgemacht und ist vielleicht nicht recht leistungsfähig. Wenn sich alles günstig trifft, so könnte ich vielleicht Krabbe von Kopenhagen abholen. Wenn Du mit Rostock einverstanden wärest, so würde sich das Zusammentreffen allerdings am einfachsten einrichten lassen. – Was mich betrifft, so bin ich bis jetzt für den Sommer noch durch keinerlei Verabredungen gebunden; nur im Laufe des Juni werde ich voraussichtlich einmal durch Familienangelegenheiten für etwa 8 Tage in Anspruch || genommen sein.
Es wäre doch schön, nach so langer Zeit noch einmal wieder zusammenzutreffen und der Vergangenheit zu gedenken, nicht nur der wenigen Monate unseres Zusammenlebens in Wien, sondern aller der Dinge, die sich ereignet haben, seit Göthe sein „Licht, mehr Licht“ hinhauchte. Das Tempora mutantur können wir dann ja auch lichtbildlich zur Anschauung bringen, doch fürchte ich allerdings, dass unsere leibliche Entwickelung nicht gerade einen vorteilhaften Fortschritt darstellen wird.
Nun wünsche ich Dir recht angenehme Tage in der himmlischen Natur, welche die Spielhölle birgt, und wünsche Dira auch Freude an der neuen Stätte wissenschaftlicher Erkenntnis, einer Pflegeanstalt forschenden Geistes, erwachsen aus dem Getriebe höllischer Spielleidenschaft. Ja, ja, in Monaco offenbart sich ein Teil von jener Kraft, die stets das || Böse will und stets das Gute schafft.
Du wirst die spielwütige Menschheit als Kulturdünger vielleicht mit Interesse beobachten, aber Dich im übrigen der Landschaft und des Wassers freuen. Vergiss das Kleinliche im Alltagsleben, lass die Frühlingslüfte Dich stärken, denn in unsern Jahren haben wir ja ein Recht auf das otium cum dignitate und einen begründeten Anspruch auf dolce far niente.
In der Hoffnung, dass es Dir gut geht und dass Du Deine Reise geniessen wirst, gedenkt Deiner
mit freundschaftlichem Grusse
Dein W. O. Focke.
a eingef.: Dir